Saturday, May 29, 2010

Zu bunt, um wahr zu sein



Von UWE SIEMON-NETTO


Zwei Wirklichkeiten prägen das Leben des Berliner Malers Manfred Märschenz im Périgord, wo vor 16000 Jahren der Cromagnonmensch seine Höhlenwände mit den mutmaßlich ersten Kunstwerken der Weltgeschichte zierte. Da ist die besinnliche Realität seines Bauernhauses „La Petite Faucherie“ bei Nanteuil, vor dem sich in Betonbecken Frösche auf Seerosenblättern sonnen und japanische BuntkarpfenManfreds Füße küssen, wenn er sie zur Kühlung ins trübe Wasser tunkt.
Da ist zum anderen eine virtuelle Realität erkennbar an einer Antennenschüssel, mittels deren Manfred Märschenz über einen Satelliten Cyberkunst produziert. Seine deutsch-britische Kollegin Liza Hirst, die nicht weit von ihm wohnt, nennt ihn „Digi-Artist“. Sie selbst ist von dieser Definition auch nicht weit entfernt, wenngleich sie nicht mit der Computermaus malt wie Märschenz, wohl aber ihre Werke übers Internet verkauft.

Liza und Manfred, Absolventen der Hochschule der Künste in Berlin, beteiligen sich mithilfe des Internets am Bestreben einer internationalen Künstlerkolonie im französischen Département Dordogne, das ermüdete Kulturleben ihres Gastlandes wiederzubeleben. Denn dieses ist nach dem Urteil eines Essayisten des US-Magazins „Time“ tot – oder stagniert, wie der Kunstgeschichtler Wilfried Rogasch gegenüber dem „New Zealand Herald“ konstatierte.

Die Parallelen zwischen Märschenz und Hirst sind begrenzt. Beide sind gegenständliche Maler und stellen ihre Gemälde in der Londoner Cyber-Galerie Saatchi Online aus. Aber „Manfred ist ein Exzentriker, während an mir nichts Exzentrisches ist“, sagt Liza, die ihren Stil „klassisch modern“ nennt und unter ihren Périgord-Kollegen als glänzende Porträtistin gilt. Liza sieht sich als Realistin. Märschenz versucht „die Realität zu brechen“, wie er sagt, und zwar im Stil des Mailänder Manieristen Giuseppe Arcimboldo (1526–1593), der Kaiser Rudolf II. und andere als Stillleben aus Gemüse und Blumen darstellte. Der Manierismus hatte vier Jahrhunderte später einen großen Einfluss auf den Surrealismus.

Scheinbar surreale Aspekte seines Lebens mögen seinen Stil mit beeinflusst haben. Er entging nur knapp dem Schicksal, als DDR-Bürger heranzuwachsen. Der Täschnersohn Märschenz kam in einer der schlimmsten Bombennächte gegen Kriegsende im Keller seines Elternhauses in Berlin zur Welt. 16 Jahre später setzte er sich am 13. August 1961 Minuten vor Beginn des Mauerbaus aus Ost- nach Westberlin ab; die Familie Märschenz hatte in beiden Teilen der Stadt Wohnungen und Geschäfte. „Kaum hatte mein U-Bahn-Zug Westberlin erreicht, da war die Grenze dicht“, sagt Manfred heute. Er lernte Zimmermann, studierte Kunst und jobbte mit seiner niederländischen Freundin Anneke, die jetzt seine Frau ist, in Film- und Fernsehstudios. Mit Anneke, einer Kostümdesignerin, landete er auch eine Zeitlang im surrealen Hollywood; der Filmstar Robert Mitchum hatte beide dorthin eingeladen.

Aber mehr noch als Hollywood entsprach das Périgord, das nach Henry Miller „dem Paradies am ähnlichsten ist“, den realitätskorrigierenden Neigungen des Manfred Märschenz. Der Landkreis Verteillac, in dem er wohnt, geht 555 Jahre nach dem Ende des Hundertjährigen Krieges (1357–1453) allmählich wieder in angelsächsische Hände über. In der Kreisstadt Verteillac ist die Nordseite der Hauptstraße im Besitz britischer Einwanderer; nur die Kirche, die Apotheke, der Friseur- und Zeitungsladen sind noch französisch, aber die Kunstgalerie, zwei Restaurants, ein Trödlergeschäft und eine Pension gehören Bürgern des Vereinigten Königreiches – des „perfiden Albions“.


Albions Exilanten in Millers Paradies sind ein eklektisches Volk: teils Umsiedler aus dem verklungenen Kolonialreich, teils saufende „Yobs“ – zu Deutsch: Proleten –, teils kulturbeflissene Frankophile, teils das Gegenteil. Es gibt auch einen „Tennis-Set“, dem keine Franzosen angehören. Die meisten Spieler beherrschen die Landessprache nicht, aber sie haben sich vermeintliche Sensibilitäten der Eingeborenen zur Herzenssache gemacht.

Als Künstler mit einem Sinn fürs Surreale klatschte sich Manfred Märschenz vergnügt auf die Schenkel, als ein Ulk des Bildhauers Edmund Ashby letztes Jahr einen Eklat in Verteillac auslöste. Edmund Ashby aus Chicago ist ein riesiger Geselle mit erstem Wohnsitz im Schloss deutscher Freunde bei Würzburg und zweitem Wohnsitz im Schloss derselben Freunde bei Verteillac. Seine skurrilen Skulpturen – mal eine gewaltige Hand, mal ein Finger, mal ein steinernes Sofa, auf dessen Rückenlehne eine steinerne Katze ruht – erheitern Bürger deutscher wie französischer Kommunen, auf deren Plätzen sie aufgestellt sind.

Diesmal gönnte sich der Amerikaner einen Streich. Er kaufte in einem Gartengeschäft einen Betonlöwen und besprühte ihn mit rosaroter, fluoreszierender Farbe. Eines Sonntags lud ein Kranwagen das Ungeheuer vor der englischen Pizzeria „La Verticalle“ ab. Die Empörung der Tennisspieler ob dieser „Geschmacklosigkeit“ war grenzenlos – sie könnte schließlich die Gefühle der französische Restbevölkerung verletzen. Diese lachte, zumal unter dem Druck ihrer britischen Beschützer der Kranwagen wiederkam und den Glitzerlöwen ein paar Häuser weiter vor das Amt des Kreises beförderte, dessen Präsident ihn willkommen hieß. Derweil ließ der Ortsklempner von Verteillac, ein Holländer, Flugblätter zirkulieren. Darauf stand: „Vive le lion rose“ – es lebe der rosa Löwe.

Dann aber verlor der Kreispräsident die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Paris. Am nächsten Morgen trug der Löwe vor seinem Amt eine Jacke. „Recevoir une veste“, also eine Jacke zu bekommen, ist aber der französische Hohnbegriff für eine Niederlage. Der Präsident verwies den Löwen alsbald seines Platzes; der Kranwagen brachte ihn jetzt zum walisischen Trödler Huw Thomas nebenan.

Nachwehen dieses Zwischenfalls sind noch zu spüren. Dem Kreispräsidenten werden reduzierte Sympathien für Angelsachsen nachgesagt. Für Künstlerkolonie und Rest-Franzosen in Verteillac ist diese Posse nach wie vor ein Objekt des Barklatsches. Märschenz aber, der das alles von der noch französischen Bierterrasse neben dem Rathaus aus beobachtet hatte, fand sich in seiner Vorliebe für Realitätsbruch bestätigt und wandte sich mit neuer Kraft seiner surrealen Cyberkunst zu.

Auf surrealistische Weise konvertiert er mit seiner Maus Fotos zu digitalen Gemälden, „Digi-Paintings“. In einem solchen hockt vor dem Hintergrund eines roten Abendhimmels eine grüne Heuschrecke auf Manfreds haarigem Finger. „Natur auf meinem Finger“ nennt er logischerweise sein Werk, das nun in seinem Haus hängt. Wie alle seine elektronischen Kreationen hatte er dieses Bild per E-Mail über einen Satelliten zu einer Spezialdruckerei in Berlin geschickt. Diese übertrug es in einem raffinierten Verfahren, das in der Fachsprache „Electron Impact Chemical Ionization“ heißt, auf ein präpariertes Tuch, das fortan bei 40 Grad in der Waschmaschine gekocht und gebügelt werden kann, ohne dem Bild einen Schaden anzutun; herkömmliche Ölgemälde hielten dies nicht aus.

Daheim in „La Petite Faucherie“ spannte Manfred das ihm per Post zugestellte Tuch auf einen Rahmen, datierte und signierte es – und voilà, fertig war wieder einmal ein manieristischer Märschenz, dessen Stil dank seiner Cyber-Expositionen internationale Aufmerksamkeit erregt. Eben erst lud ein prominenter Kunsthändler aus Miami Manfred ein, ihn doch einmal in Florida zu besuchen. „Endlich habe ich mein Medium gefunden“, sagt Märschenz.


Liza Hirst lässt sich von surrealen Schnurren wenig rühren, wenngleich ein enigmatischer Akteur des Eklats von Verteillac sie zu einem Meisterwerk inspirierte. Sie malte ein brillantes Porträt des Trödlers Huw Thomas. Liza, als Tochter einer deutschen Mutter und eines englischen Vaters in Kingston (Ontario, Kanada) geboren, aber in Deutschland aufgewachsen, ist eine nüchterne Künstlerin, Frau eines niedersächsischen Designers, Mutter zweier Söhne und mit beiden Beinen fest auf périgordischem Boden stehend. Wie Manfred lebt auch sie in einem alten Bauernhaus; ihres ist von fünf Hektar unbestellten Feldern umgeben.

Wie Manfred kennt auch sie das Künstlerschicksal geldknapper Momente. Er überwand solche mit Gelegenheitsarbeiten als Zimmermann, sie mit Malkursen und als Hilfslehrerin für Deutsch. Aber dann kam sie darauf, mittels des Internets ihre künstlerischen Gaben als Brot-und-Butter-Quelle auszuschöpfen. Jeden Morgen produziert sie ein exquisites kleines Ölgemälde auf einer 15 mal 15 Zentimeter großen Malplatte, die sie dann für 100 Euro das Stück auf der US-Webseite www.dailypainters.com feilhält. Auch ihr Porträt des Manfred Märschenz landete prompt auf dem Cybermarkt.

„Daily Painters“ ist eine virtuelle Kunstgalerie. Sie ist die geniale Erfindung des amerikanischen Malers Micah Condon aus Colorado – ein internationaler Verein mit 140 Mitgliedern, die für einen Monatsbeitrag von 29 US-Dollar jeden Tag ein frisches Kunstwerk auf diese Webseite stellen dürfen. Dieses wird von Kunstliebhabern virtuell besucht. Was ihnen gefällt, erwerben sie per virtueller Geldüberweisung.

Viele hundert Male hat Liza Hirst dieserart verkaufte Bilder – Porträts, Stillleben, Szenen aus ihrem Haus, der périgordischen Landschaft – vorwiegend nach Amerika, aber auch nach Australien, Chile, Japan, Norwegen und Südafrika verfrachtet. Von diesem Erfolg ermutigt, will sie sich bald auch wieder ihrem ursprünglichen Genre zuwenden – der großen Form, womit sie sich in puncto Umfang Manfred Märschenz annähern wird.

Liza, die Realistin, und Manfred, der Surrealist, haben noch eine Gemeinsamkeit: Sie halten wenig von der avantgardistischen Kunstszene ihres Gastlandes. „Ihr krampfhafter Versuch, ohne Substanz originell zu sein, trieb mich in die entgegengesetzte Richtung – zur traditionellen Malerei“, sagt Liza. Märschenz stimmte ihr zu: „Die französische Kunstszene ist leer.“


Die Fachwelt sieht das genauso. „Frankreich steckt in einer künstlerischen Identitätskrise“, urteilt Christophe Boicos, ein Pariser Galerist und Kunstdozent. Nun kann dies nicht die erste künstlerische Leerphase in den 16 000 Jahren sein, seit sich Menschen in Lascaux auf Höhlenwänden verewigten. Insofern ist es ein tröstliches Zeichen, dass im Land des Cromagnon eine bemerkenswerte Künstlerkolonie, zu der Hirst und Märschenz gehören, das fade Kunstmilieu dieses vormaligen Kulturkolosses aufzumischen bemüht.

Wen stört’s, dass sie Ausländer sind? Wo Künstler sich selbst und einander auf die Schippe nehmen, herrscht Kreativität. Davon zeugt der Betonlöwe vor Huw Thomas’ Trödelladen. Nachts glitzert er, einem Mahnmal gleich, im Scheinwerferlicht von Autos, die durch Verteillac nach Norden fahren – in Richtung Paris. Er war unlängst umgespritzt worden. Jetzt ist er violett, und dies könnte eine Botschaft für die mit sich selbst beschäftigten Hauptstadtkünstler sein. Violett ist bekanntlich die Farbe der Unbefriedigte

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