Friday, June 8, 2012

Des Menschen Faust in Gottes Gesicht

Der amerikanische Wendepunkt

(Aus "Factum" Juni 2012)

 Von UWE SIEMON-NETTO

Vor Jahrzehnten erfand mein Doktorvater Peter L. Berger eine launige Formel, die geistliche Lage Amerikas zu beschreiben. Berger, der führende Religionssoziologe in den USA, ist ein gebürtiger Wiener mit einem Faible für die Ironie des österreichischen Schriftstellers Robert Musil (1880-1942), dessen unvollendetes Buch „Der Mann ohne Eigenschaften“ zu den einflussreichsten Romanen des 20. Jahrhunderts zählt. Bergers Aphorismus hört sich so an: „Die frömmsten Menschen der Welt sind die Inder; die am wenigsten frommen sind die Schweden. So gesehen, sind die Amerikaner ein Volk von Indern, das von Schweden beherrscht wird.“

Ich habe in meinen Studienjahren in Boston oft über Bergers Apercu gelacht, weil es, wie jede gute Karikatur, der Wahrheit sehr nahe kam. Heute befürchte ich, dass das nicht mehr ganz zutrifft. Die USA hatten in ihrer 236-jährigen Geschichte etliche Präsidenten, deren Glauben von der christlichen Orthodoxie abwich; so waren die ersten drei Deisten, also Leute, die zwar den göttlichen Ursprung des Universums anerkannten, das weitere Eingreifen Gottes in die Geschichte jedoch bestritten. Aber sie stellten sich nicht mitten im Wahlkampf aufs Podium und erklärten dem tumben Volk: „Ich bin aufgeklärt und ihr seid es nicht.“

Barack Obama dürfte, um bei Bergers Bonmot zu bleiben, der erste „Schwede“ sein, der dergestalt herablassend zu seinen „Indern“ sprach.  In einem Fernsehinterview gab er bekannt, dass er nunmehr das Recht gleichgeschlechtlicher Paare unterstütze, sich amtlich trauen zu lassen; vor vier Jahren hatte er genau dies verneint. War dies nun – sechs Monate vor der Wahl – tollkühn? War es, wie konservative Kommentatoren meinen, der Verzweiflungsakt eines Staatsmannes, der sich keiner wirtschaftlichen und aussenpolitischen Erfolge brüsten kann und folglich eine Koalition der Minderheiten zusammenbastelt – der Linksliberalen, der harten Linken, der Schwarzen, der Latinos, der Homo-, Bi- und Transsexuellen, der Feministinnen, zumal solcher, die furios für das „Recht“ der Frau eintreten, ihre Leibesfrucht zu liquidieren?

Oder haben Obama und seine Berater sich überzeugt, dass die meisten Amerikaner von „Indern“ zu „Schweden“ mutiert sind. Die spannende Frage ist, ob Amerikaner infolgedessen  nicht mehr dadurch verprellt werden können, dass ihr Präsident ein „säkulares, postchristliches, homosexuelles Amerika anstrebt“, wie mein Kollege Jeffrey T. Kuhner dies in der Internetpublikation „World Tribune“ formulierte. Steuert er deshalb sein Land ausgerechnet jetzt einem kulturellen Wendepunkt entgegen?

Obama „streckt seine Faust in Gottes Gesicht“, kommentierte Franklin Graham, Billy Grahams Sohn, diesen Vorgang, der deshalb so Angst erregend ist, weil er viel weiter reichende Konsequenzen hat als jedes modische Bekenntnis zur „Toleranz“. Hier geht es ja nicht um staatliche Hochherzigkeit in Fällen bibelwidrigen Sexualverhaltens. Hier ist nicht die Rede von einer Feld-Wald-und-Wiesen-Sünde, von der uns dank Gottes Gnade der Glaube an Christi Sühnetod am Kreuz erlöst. Hier verkündet der höchste Mann im Staate eben nicht nur seine Neutralität gegenüber biblischen Gesetzen wie dem 6. Gebot oder auch dem Verbot der Sodomie.

Nein, dies ist viel dramatischer: Hier empört sich die Obrigkeit der Grossmacht Amerika wider die verborgene Herrschaft Gottes im weltlichen Reich. Hier erleben wir den Versuch einer Usurpation seiner Souveränität. Obama vergreift sich an den Parametern, die Gott den Herrschern für ihr Amt gesetzt hat, damit die Welt nicht aus dem Ruder läuft. Denn nach christlichem Verständnis ist die Ehe zwischen Mann und Frau der Baustein der Familie, und die Familie ist wie der Staat und die Wirtschaft, eine Schöpfungsordnung, ein Bollwerk gegen das Chaos, das Tohuwabohu. Dies lässt sich auch nichtchristlich formulieren: Um im November nicht abgewählt zu werden, tritt Obama in Angst erregender Weise an die Spitze jener Kräfte, die das Naturrecht ausser Kraft setzen wollen.

Amerikas bisherige „indische“ Mehrheit machte sich über diese Absicht von „Schweden“ wie Obama keine Illusionen. Deshalb verabschiedeten 31 der 50 Bundesstaaten Gesetze, in denen die Ehe ausschliesslich als der Bund zwischen einem Mann und einer Frau definiert wurden. So steht es auch in einem Bundesgesetz, das die Schwulenlobby, auf deren Seite sich augenscheinlich jetzt auch der Präsident geschlagen hat, zu kippen trachtet.

Wieso scheut sich Obama also nicht mehr, seine „Inder“ vor den Kopf zu stoßen? Ganz einfach: weil sie nicht mehr die Mehrheit sind. Nach jüngsten Umfragen befürworten bereits 51 Prozent der Amerikaner das Heiratsrecht für Homosexuelle, und Demoskopen haben ermittelt, dass sich diese Werteerosion fortsetzen wird. Dies ist das Ergebnis eines faszinierenden Indoktrinationsgeschichte, die ich seit 50 Jahren verfolge: Nach der Faustregel „steter Tropfen höhlt den Stein“ bearbeitet die Lobby der Homosexuellen, die höchstens vier Prozent des Volkes ausmachen, mit einer geschickten Strategie die öffentliche Meinung.

Das begann damit, dass sie sich, wie auch die Feministinnen, an die schwarzen Bürgerrechtler anhängte, bis sich in immer mehr Köpfen die Analogie durchsetzte: Es war unrecht, Afro-Amerikaner zu benachteiligen, also ist es auch falsch, gegen eine sexuelle Minderheit zu diskriminieren. Die Differenz zwischen Pigmentunterschieden und abartiger Fleischeslust zu sehen, setzt die Fähigkeit zu kritischem Denken voraus. Diese Fähigkeit ist aber abhanden gekommen, wie jeder bezeugen kann, der einmal im öffentlichen Schul- und Hochschulwesen der USA gelehrt hat.

 Die „schwedischen“ Autoren der Postmoderne haben dafür gesorgt, dass auch die vormaligen „Inder“ zunehmend meinen, ein jeder könne sich seine eigene Wertewelt selbst zurechtzimmern. Ein befreundeter Professor einer methodistischen Universität berichtete mir einmal voller Schrecken, dass seine Studenten ausnahmslos meinten, man dürfe Hitler doch nicht verdammen, weil er ja „aus seiner eigenen Sicht, wenn nicht aus unserer, Recht gehabt haben mag“.

So kam es, dass in Amerika heute „Schweden“ über immer mehr „Schweden“ herrschen, während die frommen „Inder“ im Rückzug sind. Ob dies schon so weit vorangeschritten ist, dass es Obamas Wahlchancen steigert oder zumindest nicht mindert, wird sich im November zeigen. Aber dass sich hier der Marsch einer Weltmacht ins Tohuwabohu abzeichnet, muss uns nachdenklich stimmen, obwohl gleichgeschlechtliche Ehen in Teilen unseres Kontinents längst üblich sind.

Stockholm hat gar eine lesbische Bischöfin, Eva Brunne heisst sie.  Frau Brunne lebt mit einer anderen Priesterin in einer kirchlich gesegneten Partnerschaft. Die lutherische Kirche von Schweden befürwortet homosexuelle Ehen. Aber Schweden ist um viele Nummern kleiner als die USA und hatte nie eine „indische“ Mehrheit, um bei Bergers Bild zu bleiben. Zwar macht dies die skandinavische Verirrung nicht weniger schandbar, nur dürfte der Schaden geringer sein. Schwedischer Aberwitz wird nicht automatisch nachgeahmt, amerikanischer Wahnsinn aber sehr wohl. Und genau hier liegt das Problem, das Obama jetzt zu einem neuen Höhepunkt gebracht hat.

Es war Amerika, das 1973 die globale Abtreibungslawine losgetreten hatte, die nunmehr in der ganzen westlichen Welt jedes Jahr Millionen ungeborener Kinder  den Tod bringt. Es war Amerika, das für die Homosexualität und sogar den Sadomasochismus auch in den Kirchen die Tür aufgestossen hat. Jetzt nehmen sich deutsche evangelische Landeskirchen daran ein Beispiel und gestatten gleichgeschlechtlichen Paaren den Einzug ins Pfarrhaus.

Ich liebe Amerika, mit dem ich seit einem halben Jahrhundert eng verbunden bin, aber ich sehe auch den ethischen Unrat, mit dem es die Welt überschwemmt. Allzu gern mokieren sich Christen in meiner amerikanischen Wahlheimat über die angeblich verheidete Alte Welt. Aber jetzt befürchte ich, dass eben deren Zustand, nennen wir ihn das „allgemeine Schwedentum“, unaufhaltsam über den Atlantik zurückschwappen wird.

Ich stamme aus Sachsen, der Wiege der Reformation, einem Teil der ehemaligen DDR. Nach einer Studie der Universität von Chicago glauben in diesem Gebiet, Luthers Heimat, nur noch 13 Prozent der Menschen an Gott. Dieses Schreckensergebnis ist heute schlimmer als vor der deutschen Wiedervereinigung. Aber treibt dies die Landeskirchen zu einer gründlichen Mission in ihren eigenen Territorien an? Halten Sie sich an Jesu Befehl: „Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes”(Matthäus 28,19)?

Nein, das nun wirklich nicht. Dabei kann ich mir kaum ein wichtigeres Missionsfeld vorstellen als dieses Land, dessen Kinder oft ohne irgendwelche Werte aufwachsen, ein Land darüber hinaus voller muslimischer Einwanderer und Flüchtlinge, unter denen nur wenige vereinzelte Pfarrer und die Freikirchen evangelisieren, nicht aber die Landeskirchen, die befürchten, dass derlei Aktivitäten ihren verquasten „interreligiösen Dialogen“ in den Weg kommen könnten. Statt Seelen zu retten, kaprizieren sie sich auf den aus Amerika importierten Tick, die göttliche Schöpfungsordnung selbst im Pfarrhaus unterwandern zu lassen.

Welcher Irrsinn wird Europas Gottesdiener erst befallen, wenn die amerikanischen Wähler im November nicht Obamas Faust aus Gottes Gesicht ziehen? Wir Europäer haben inzwischen gelernt, dass es keine amerikanische Abscheulichkeit gibt, die bei uns nicht nachgeäfft würde. Wenn ein chaotische Endsieg der amerikanischen „Schweden“ über die amerikanischen „Inder“ dazugehören sollte, dann lasst uns jetzt schon das „Kyrie eleison“ einüben!











Tuesday, June 5, 2012

Schlafender Glaubensriese in den USA


Luthertum in Nordamerika:
Gespalten, schwach und dennoch stark

UWE SIEMON-NETTO

 (Aus "Diakrisis" Juni 2012)

Heinrich Herrmanns hat in Diakrisis (4/2011) trefflich geschildert, was Glieder der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika (ELCA) bewog, zwei neue, bekenntnistreue Glaubensgemeinschaften zu bilden: die von einem Bischof geführte Nordamerikanische Lutherische Kirche (NALC), der 100.000 der neun Millionen US-Lutheraner angehören, und die lose verknüpften „Lutherischen Gemeinden in der Mission für Christus“ (LCMC) mit insgesamt etwa 600,000 Gliedern. Auch ich bin ein ELCA-Flüchtling, habe aber den Weg zur 2,3 Millionen Mitglieder zählenden Missouri-Synode (LCMS) gewählt, der zuweilen  uncharmanten aber doch gewissenhaften Bewahrerin unserer Bekenntnisse. Aus meiner Flüchtlingsperspektive sei nun Herrmanns’ Bericht ergänzt, teils mit bedrückenden, teils auch hoffnungsträchtigen Details.

Die NALC ist theologisch hochelegant jedoch noch klein, wie die meisten der mindestens 44 Glaubensgemeinschaften in den USA, die sich lutherisch nennen aber zum Teil keine Kanzel- und Altargemeinschaft pflegen. Lehrmäßig steht die NALC auf solidem Boden, im Gegensatz zu aparten Zwergen wie der dem Papst ergebenem aber von ihm nicht anerkannten „Anglo-Lutherisch-Katholischen Kirche“, der Lästerer nachsagen, dass sie mehr Erzbischöfe als Gemeindeglieder habe. Die NALC unterscheidet sich auch vorteilhaft von unerbittlich strengen Glaubensgemeinschaften wie der Wisconsin-Synode (WELS), deren fast 400.000 zumeist deutschstämmigen Gläubigen untersagt ist, mit anderen Christen zu beten, Lutheranern eingeschlossen.

Angeblich hat Präsident Theodore Roosevelt (Amtszeit: 1901–1909) für das Luthertum den Begriff des „schlafenden Riesen“ geprägt; vom baptistischen Starprediger Billy Graham wissen wir, dass er dies wirklich gesagt hat. Wie dem auch sei, der Riese wirkt oft schlapp. Das mag mit seinem oft zänkischen Naturell zu tun haben oder seinem unterentwickelten Selbstbewusstsein; beide Faktoren haben den Giganten oft auf Abwege geführt und lösen immer neue Schismata aus.

Wieso die lutherische Stimme in der Kakophonie des amerikanischen Protestantismus so wenig gehört wird, ist nur mit Mühe nachzuvollziehen. Lutheraner sind hier immer eine Marginalie geblieben, obwohl es sie bereits in Amerika gab, ehe die heute größten protestantischen Kirchen in den USA, die Baptisten und die Methodisten, überhaupt existierten. Schon 1607 hatte ein bekennender Lutheraner in Jamestown (Virginia) die erste britische Kolonie mitbegründet: der Breslauer Pfarrerssohn und Arzt Johannes Fleischer, der aber bald an Typhus starb. Das war 30 Jahre bevor Roger Williams die erste baptistische Gemeinde schuf, und 175 Jahre bevor in Baltimore die amerikanische Methodistenkirche entstand.

Seither erlangten Lutheraner in der Neuen Welt Ruhm, etwa der Pfarrer Johann Peter Mühlenberg, der im Revolutionskrieg zum Generalmajor in George Washingtons Armee aufstieg. Amerikanische lutherische Theologen brillierten mit Meisterwerken, zum Beispiel Jaroslav Pelikan (1923-2006), der einen wesentlichen Teil der englischsprachigen Ausgabe des Gesamtwerkes Martin Luthers editierte, dann aber, wie etliche lutherische Pfarrer in den letzten Jahrzehnten, zur Orthodoxie konvertierte, weil er diese für ekklesiologisch authentischer hielt.

Illustre Lutheraner haben die theologischen Fakultäten von Eliteuniversitäten wie Harvard und Yale geleitet; auch heute haben lutherische Theologieprofessoren aus den USA ein weltweites Renommee, darunter der Ethiker Robert Benne, der Hermeneutiker James Voelz und die Systematiker Robert A. Kolb, Charles P. Arand und mein Lehrer Carl E. Braaten, der theologische Chefberater der neuen NALC. Aber Braaten gehört er NALC gar nicht an; er ist in der ELCA geblieben, weil ihn die lutherische Anlage zur Kirchenspaltung verdrießt.

Ich kenne seine Gemeinde nicht, bin aber sicher, dass sie zu den vielen gehört, die sich weigern, die ELCA-Häresien mitzutragen, namentlich ihre feministischen und homophilen Irrwege. Und hier sind wir bei einem weiteren Kuriosum des amerikanischen Luthertums: Hunderte strenggläubiger Gemeinden bleiben wider Willen in der ELCA, weil sie aufgrund ihrer Verfassungen ihren gesamten Besitz einschließlich der Gotteshäuser verlören, wenn nicht jedes einzelne Mitglied ihrem Übertritt in eine andere Glaubensgemeinschaft wie die NALC zustimmt. Viele dieser Gemeinden haben aber de facto ihren regionalen Bischöfen und der obersten Kirchenleitung in Chicago die Gefolgschaft versagt und den Geldhahn abgedreht. Die Folge sind zunehmend menschenleere Büros in den zentralen und regionalen Kirchenämtern der ELCA, weil diese ihre Wasserköpfe abbauen müssen.

Andere Gemeinden haben sich gänzlich unabhängig gemacht, weswegen es fast unmöglich ist, präzise zu ermitteln, wie viele Lutheraner es in den USA  überhaupt gibt. Der geistreiche Rundfunkspötter Garrison Keillor, lästerte einmal über die Menschen im amerikanischen Mittelwesten, dass sie eigentlich alle Lutheraner seien. „Es gibt methodistische Lutheraner, anglikanische Lutheraner, katholische Lutheraner. Selbst die Atheisten sind hier Lutheraner. Der Gott, an den sie nicht glauben, ist der Gott Martin Luthers.“

Der notorische Spaltergeist im US-Luthertum hat unterschiedliche Wurzeln, teils legitime wie die Häresien, die sich der Hochschulen und Hierarchie der ELCA bemächtigt haben, teils tribalistische; die Missouri- und Wisconsin-Synoden wirken oft wie eingewecktes Deutschtum aus dem 19. Jahrhundert, während mehrere kleinere Kirchen ihre estnischen, lettischen, norwegischen, schwedischen und slowakischen Ursprünge herausstreichen. Eine weitere Wurzel ist freilich eine gegenteilige Tendenz, nämlich ein pathologischer Drang, sich den „schickeren“, „typisch amerikanischen“ Glaubensgemeinschaften anzugleichen, den so genannten „Mainline“-Kirchen. Dies ist eine alte Plage. Schon Samuel Simon Schmucker (1799-1873), der Gründer der lutherischen General-Synode, war so erpicht darauf, sich den tonangebenden Calvinisten zu unterwerfen, dass  er die Augsburger Konfession durch eine verstümmelte Bekenntnisschrift ersetzen wollte, die ihnen eher zusagte.

Auch die Krise in der ELCA, die 1988 aus der Fusion dreier lutherischer Kirchen hervorging und dann flink von 5,2 Millionen Gliedern auf 4,2 Millionen schrumpfte, leitet sich zum Teil von dem Bedürfnis ab, vom „Mainline“-Protestantismus ernst genommen zu werden. Ich habe dies aus nächster Nähe beobachtet, erst als 50-jähriger   Theologiestudent an einer ELCA-Hochschule, dann als Ressortleiter für Glaubensfragen bei der Nachrichtenagentur UPI. Das war ein ärgerliches Erlebnis.

„Was sind überhaupt Lutheraner?“ frotzelten Amerikaner früher. Die Antwort lautete: „Das sind Bier trinkende Episcopalians (US-Anglikaner).“  Letztere gelten als Sherrytrinker, deren schlanke Geistliche  angeblich seltener als die zuweilen sehr korpulenten lutherischen Pastoren vor dem Problem stehen, wo sie das ihre Alben raffende Zingulum schnüren sollen: oberhalb oder unterhalb des Bauches?

Die Episkopalkirche (ECA) ist nur halb so groß wie die ELCA und eigentlich ein Etikettenschwindel, ein katholisch geordneter Calvinismus in bunten Gewändern, aber eben gesellschaftlich feinste geistliche Adresse. So brennend war in der ELCA die Begierde, im Windschatten dieser im Steilsturz sinkenden Denomination salonfähig zu werden, dass sie sich nach langjährigen Verhandlungen mit ihren Theologen über Kanzel- und Altargemeinschaft auf eine pure Eulenspielerei einließ: Die ELCA unterwarf sich den Ordinationsprinzipien der ECA; alle lutherischen Bischöfe und Pfarrer sind fortan in der „historischen Sukzession“ zu weihen, freilich einer, die weder vom Vatikan noch von den Ostkirchen anerkannt wird. Die Hoffnung der Lutheraner, dass sich die Anglikaner im Gegenzug wenigstens die Augsburger Konfession zueigen machten, erfüllte sich nicht.

Dieses Arrangement hatte zwei Folgen: Erstens löste es einen Massenexodus bekenntnistreuer Gemeinden aus der ELCA ins äußere oder innere Exil aus; zweitens infizierte sich die ELCA mit allen Zeitgeistseuchen der Episkopalkirche, nicht nur in punkto Sexualität. Wie selbstzerstörerisch sich Teile dieser beiden Partnerkirchen in die theologische Perversion hineinsteigern, zeigen zwei Beispiele aus Südkalifornien: In Los Angeles entschuldigte sich der Bischof der Episkopalkirche in einer Predigt für den Versuch anglikanischer Missionare, Hindus zu bekehren; dann konzelebrierte er mit Hindu-Priestern das Abendmahl. Einige Zeit später traute eine lutherische Pfarrerin in einem Nachbarort zwei Männer in einem Sakramentsgottesdienst, wobei sie einem Blindenhund die konsekrierte Hostie in die Schnauze legte.

Der deutsche Leser mag in dieser Tragikomödie aus der Neuen Welt triste Parallelen zur Lage in der eigenen Heimat wiedererkennen. Aber damit ist gottlob nicht alles gesagt, denn in Amerika steht dem geistlichen Hinriss ein robustes Glaubensleben entgegen, auch und insbesondere im Luthertum, das ungeachtet seiner bärbeißigen Eigenart eben auch über eine mächtige  prophetische Stimme und eine wichtige Lehrfunktion verfügt. In Deutschland mit seinen Landeskirchen wird dies oft deswegen nicht erkannt, weil in Amerika die Gemeinden eine viel wichtigere Rolle spielen.

Was ich jetzt schildern werde, ist die Situation der „Faith Lutheran Church“, einer hochkirchlichen Gemeinde der Missouri-Synode in Capistrano Beach (Südkalifornien). Ähnliches könnte ich zweifellos auch von treuen Gemeinden der NALC, LCMC oder sogar der ELCA berichten, die sich unter anderem deshalb von der Missouri-Synode fernhalten, weil sie Frauen ordinieren, während deren Theologen Pfarrerinnen für eine ontologische Absurdität halten; diese Kluft wird sich vor der Parusie nicht überwinden lassen.

Was eigentlich seit fast 2.000 Jahren bekannt sein sollte,  ist im amerikanischen Luthertum Realität: In der Gemeinde, nicht in irgendwelchen Kirchenbürokratien, lodert das Glaubensfeuer. Ob Gemeinden nun winzig oder riesig sind – die kleinsten haben nur sieben oder acht, die größten über 6.000 Glieder – ist dabei nicht ausschlaggebend. Der „Platzregen des Heiligen Geistes“, von dem Luther sprach, geht über Zwergen wie Riesen nieder, oder auch nicht, weniger hingegen über Landeskirchenämtern. Dieser Wahrheit sollte auch die EKD eingedenk sein, in deren Bereich Geldknappheit mit Fusionen  bekämpft wird, weil ihren Bediensteten nichts Besseres einfällt.

Meine Kirche nennt sich kurz „Faith Capo“; sie mag als Fallstudie einer erfolgreichen, wachsenden und doch traditionellen lutherischen Gemeinde in den USA dienen. Sie hat rund 370 Mitglieder aller Altersgruppen; davon kommen knapp 300 jeden Sonntag zu einem der drei Sakramentsgottesdienste. Fast 60 Prozent von ihnen sind „Überläufer“ aus benachbarten, gesetzesorientierten und Lebenshilfe erteilenden Megakirchen, Suchende, die bei „Faith Capo“ das fanden, was ihnen vorher fehlte, nämlich das Wort der Vergebung; ihre Suche nach Absolution resultiert von dem wachsenden Sündenbewusstsein, das Religionswissenschaftler in den USA seit einigen Jahren konstatieren und sich unter anderem  darin zeigt, dass heute nur noch eine Minderheit der Amerikaner das Recht der Frau auf Abtreibung befürwortet.

Einige waren zu „Faith Capo“ gestoßen, nachdem sie unter der Woche an unseren morgendlichen Beichtgottesdiensten in der Passionszeit teilgenommen und dabei die Absolution mit Kreuzeszeichen empfangen hatten; genau dies hatte ihnen in ihren Megakirchen gefehlt. Meist sind diese Neulinge jüngere Ehepaare mit Kindern; sie werden erst einmal in monatelangen Kursen „eingeluthert“, will heißen: in die lutherische Kreuzestheologie, die Sakramentslehre, die sorgfältige Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, in die üppige Liturgie und unser Liedgut aus dem 16. und 17. Jahrhundert eingewiesen. Es sind vor allem die 60 Prozent Konvertiten, die unsere Choräle mit einer solchen Kraft schmettern, dass mir, einem Einwanderer aus Deutschland, die Tränen kommen und unsere neue Organistin, eine Katholikin, sagt, so viel Sangeslust habe sie noch nie erlebt. Dieser herzerfrischende Gesang ist für mich denn auch das sicherste Zeichen, dass ich einer kerngesunden Gemeinde angehöre.

Aber nicht nur das: Nirgendwo habe ich eine gewissenhaftere Katechese und ein anspruchsvolleres Lehrprogramm erlebt, selten so geschliffene 20-Minuten-Predigten, die grundsätzlich im Evangelium münden und bei denen es der Pfarrer nie versäumt, auf den Gekreuzigten über dem Altar zu weisen. Noch nie habe ich so viele Kleinkinder und tadellos erzogene Jugendliche im Gottesdienst gesehen, nie habe ich schließlich jeden Sonntag in so hochkarätigen Erwachsenenforen gesessen wie in Faith Capo; jeden Sonntag spricht ein Gastreferent vor 80 bis 100 Gemeindegliedern über anspruchsvolle theologische Themen wie Martin Chemnitz’ Buch von den beiden Naturen Christi oder den theologischen Umgang mit Menschen, die an ihren Kirchen zerbrochen sind.

„Faith Capo“ ist nach amerikanischen Begriffen eine mittelgroße Gemeinde, die sich gleichwohl zwei gut bezahlte Pfarrer und einen Vikar gönnt, während sich in Deutschland drei- oder viermal größere Gemeinden keinen Geistlichen mehr leisten können. Wie ist das möglich? Das rechnet sich so: In Amerika gibt es keine Kirchensteuer, und Geistliche sind keine Beamten oder Angestellten sondern Freischaffende mit Pauschalverträgen. Unsere Gemeinde lebt von den Beiträgen und Spenden ihrer Mitglieder. Ihr Budget beläuft sich auf 553.581 Dollar im Jahr. Davon führt sie zehn Prozent ans Amt des Regionalpräses (Bischof) in Irvine und an die Kirchenleitung in St. Louis ab. Die beiden Pfarrer bekommen 45 Prozent oder 242.000 Dollar in Form von Gehältern Wohngeld und Sozialleistungen.

Das ist großzügig, aber dafür schuften sie auch. Ich habe im Gemeindehaus ein Büro direkt zwischen den Amtsstuben der Pfarrer Ronald Hodel und Jeremy Rhode und staune über das Arbeitspensum dieser beiden humorvollen, hoch gebildeten Männer. Im Durchschnitt sind sie wöchentlich 70 Stunden im Dienst. Er beginnt nach altluthericher Art früh am Montagmorgen mit dem Übersetzen der Predigttexte aus dem Hebräischen und Griechischen und zieht sich bis in die späten Abendstunden hin. Da sind zweimal in der Woche Privatbeichten, die diese Geistlichen in dem dann für andere geschlossenen Kirchenschiff direkt vor dem Altarraum abnehmen. Da sind -zig Alten- und Krankenbesuche in der Woche. Wird bekannt, dass ein Gemeindeglied ins Hospital eingeliefert wurde, ist binnen weniger Stunden ein Seelsorger an seinem Bett; dies ist auch mir zweimal passiert.

Da sind drei Sonntags- und mehrere Wochentagsgottesdienste zu gestalten, Bibelstunden, Konfirmandenunterricht, Jugend – und Altenarbeit und Frühmetten. Beim Studium der Webseite diese Kirche (www.faithcapo.com) gerät der Betrachter ins Schwindeln. Hier sind augenscheinlich lutherische Hennekes oder Stachanows am Werk. Dies kann ich bezeugen. Nur eine Pönitenz, die ihren deutschen Amtsbrüdern das Leben schwer macht, bleibt ihnen erspart: die Verwaltungsarbeit, die Finanzen, die Sorge um Reparaturarbeiten und Parkplätze. Damit haben sie nichts zu schaffen; das alles nehmen ihnen Ehrenamtliche aus der Gemeinde ab.

Wer wissen will, wie eine lebendige, dynamische Gemeinde funktioniert, der komme nach Capistro Beach. Natürlich sind keineswegs alle so; mein bärbeißiger Freund, der Theologe Rod Rosenbladt, sagt allen, die es hören wollen:  „Ich lasse jeden Sonntag auf dem Weg zum Gottesdienst neun andere LCMS-Kirchen links liegen, bevor ich in Faith Capo eintreffe.“ Auch ich bin manchmal versucht, meiner lutherisch-schismatischen Neigung zu frönen, namentlich dann, wenn ich mich über meine Lutheran Church-Missouri Synod ärgere, womit ich vor allem ihre phasenweise arg bornierte Leitung in St. Louis meine. In solchen Momenten tunke ich schon mal im Geiste meinen Fuß in den Tiber oder den Bosporus. Aber sobald ich mir Rom oder die Orthodoxie schönärgere, lacht mich Pfarrer Hodel aus und sagt: „Bleib’ doch einfach bei uns; hier bist du gut aufgehoben.“ Da hat er auch wieder Recht.


Der deutsche Journalist  Dr. Uwe Siemon-Netto leitet das Center for Lutheran Theology and Public Life in Capistrano Beach, Kalifornien.