Saturday, July 14, 2012

Ein geistlicher Platzregen

(aus factum, Juli 2012)



Pfarrer Gottfried Martens tauft Perser
in der Osternacht in Berlin 

 Persische Muslime sehen Jesus 
im Traum und 
lassen sich zu
Tausenden taufen


Diakonisse Rosemarie Götz 
tauft Perserin in Berlin 

 UWE SIEMON-NETTO

Kaum ein anderer Vers des Alten Testaments stimmt mich so vergnügt wie dieser Satz aus Psalm 2,4:  «Aber der im Himmel wohnet lachet ihrer.» Darauf bezog sich Bischof Jobst Schöne, der frühere Hirte der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Deutschland, als wir uns über die österliche Taufe von acht ehemaligen Muslimen in einer Berliner Gemeinde unterhielten: «Gott muss sich ins Fäustchen gefeixt haben.»
Was war daran so ergötzlich? Nun dies: Da berichteten die Medien aufgeregt über die missionarische Grossoffensive radikaler Muslime im «verheideten» Deutschland; ausgerechnet in der Karwoche verteilten sie den Koran in 300.000 Exemplaren an Strassenecken und kündigten an, die deutsche Übersetzung ihres heiligen Buches in einer Auflage von über 25 Millionen drucken zu lassen.
Aber siehe, just zu diesem Zeitpunkt schwappte eine Welle von Bekehrungen persischer Asylbewerber übers Land, und zwar nicht nur in der lutherischen St. Marienkirche in Berlin-Zehlendorf, wo der Ruheständler Schöne als Prediger und Liturg aushilft, sondern auch in baptistischen, reformierten und katholischen Gotteshäusern.
Wenn Marien-Pfarrer Gottfried Martens eines Beweises für seine These bedurfte, dass sich hier Gottes Sinn für Ironie bestätige, so sei dieser Kontakt-zwilling genannt: Im fernen Persien und in deutschen Flüchtlingslagern, in arabischen Wüsten wie im Hindukusch, träumen Mohammedaner von Jesus, und als Nächstes lesen sie die fast 500 Jahre alte Lutherbibel und lernen den Gott der Christenheit kennen, der sich von Allah sehr unterscheidet.
Idea-Redakteur Matthias Pankau schilderte das Ereignis in der Marienkirche kürzlich als ein Ereignis höchster Symbolkraft. Es begann im Dunkeln. Nur Kerzen verliehen dem sakralen Raum ein schummriges Licht. Dann, gleich nach Mitternacht, intonierte Gottfried Martens vom Altar: «Ehre sei Gott in der Höhe»; jetzt jubelte die Orgel auf, und die Gemeinde stimmte die «grosse Doxologie» an: «Wir loben dich, wir benedeien dich, wir beten dich an.» Es wurde hell in der Kirche, hell wie der Sieg Christi über Tod und Teufel.
Für sechs junge Männer und eine Frau in der ersten Reihe war dies ein Augenblick von persönlicher Brisanz, denn jetzt begaben sie sich ihrem Heil zuliebe in Lebensgefahr: Sie liessen sich taufen und darauf steht nach islamischem Recht die Todesstrafe. In Teheran, das wusste jeder, wartete zu dieser Stunde der Pastor Yusuf Nadarkhani, ein ehemaliger Moslem, auf den Galgen. Auch unter den Täuflingen in St. Marien waren solche, die verfolgt und gefoltert wurden, bevor sie nach Deutschland flohen, wo 150.000 Perser leben, mehr als in irgendeinem anderen westeuropäischen Land.
«Für uns Christen in Deutschland ist kaum vorstellbar, was diese Menschen auf sich nehmen, um ihren christlichen Glauben frei leben zu können», berichtet Marien-Pfarrer Gottfried Martens, dessen Kirche zur Zeit erfährt, was Martin Luther einen «Platzregen des Heiligen Geistes» nannte. Während das restliche Berlin wie eine geistliche Wüste wirkt, schwoll Martens’ Gemeinde in den letzten 20 Jahren von 200 auf über 900 Glieder an. Dazu gehören seit fünf Jahren immer mehr Konvertiten aus dem Iran. In der Osternacht 2011 taufte Martens zehn Ex-Muslime, im nächsten und übernächsten Jahr werden es ebenso viele sein, und auch in der Zwischenzeit sind etliche Taufen geplant.
«Gott hat ausgerechnet das östliche Deutschland, eine der gottlosesten Regionen der Welt, zum Schauplatz einer Erweckung unter Persern erwählt», fügte Martens in einem telefonischen Interview mit factum hinzu. Nach einer Studie der Universität von Chicago sind noch 13 Prozent der Menschen in den neuen Bundesländern gläubig.


Aber die Taufen in der Marienkirche sind nur ein Stein in einem Glaubensmosaik, das sich über ganz Deutschland erstreckt und keine konfessionellen Grenzen kennt. Einige Geistliche, die für diesen Artikel interviewt wurden, sprachen von einem Bühnenstück aus göttlicher Feder, und zwar einem, in dem Jesus-Visionen vieler Muslime ihren festen Platz haben. Diese folgen einem Muster, das sich mit den Berichten von Konvertiten in der ganzen islamischen Welt deckt. Ihnen erschien im Traum eine Lichtgestalt, die manchmal die Gesichtszüge Christi trägt, manchmal auch nicht; in jedem Fall wussten die Träumer hernach genau, wen sie gesehen hatten: nicht den «Isa» des Korans, sondern den Jesus der Bibel. Dieser Jesus schickt sie zu spezifischen Pfarrern, Gemeinden oder Hauskirchen, in denen sie das Evangelium hören.
Thomas Schirrmacher, der Vorsitzende der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz, sagt dazu: «Gott bestätigt hier also die reformatorische Lehre, dass der Glauben durch Schrift und Predigt vermittelt wird. In diesen Träumen veranstaltet Jesus ja keinen Hokuspokus, sondern verweist diese Menschen an die richtige Adresse, wo sie das unverfälschte Wort erreicht.» Aus genau diesem Grund hält auch Pfarrer Martens diese Berichte für glaubwürdig: «Als Lutheraner neigt man ja nun wirklich nicht zu Schwärmereien.»
Nach Ostern meldeten sich andere Gemeinden mit ähnlichen Geschichten. Im «Haus Gotteshilfe» der Landeskirchlichen Gemeinschaft in Berlin-Neukölln, hatte die Diakonisse Rosemarie Götz an jenem Ostertag 16 Perser getauft und damit ihre Gemeinde schlagartig verdoppelt. «Diese Iraner brachten 50 weitere mit, die wir jetzt im christlichen Glauben unterweisen; im August werden wir acht bis zehn von ihnen taufen», sagte Schwester Rosemarie.
Ihr Kontakt zu den Persern hatte vor 19 Jahren begonnen. Eine Sozialarbeiterin aus dem weltlichen Milieu führteNadereh Majdpour zu ihr. Frau Majdpour war in ihrer Heimat inhaftiert und so gefoltert worden, dass sie ihr gesamtes Kopfhaar verlor. Ihr «Delikt» war, öffentlich erklärt zu haben, dass sie Christus mehr liebe als Mohammed. Sie führte Schwester Rosemarie weitere Landsleute zu und dolmetscht für sie.
Zwei Wochen nach Ostern taufte der Pastor der baptistischen Friedenskirche im Berliner Stadtbezirk Charlottenburg vier weitere Perser. Unterdessen bereitete in der reformierten Bethlehemkirche, ganz in Schwester Rosemaries Nähe, der aus dem Iran stammende Presbyterianerpfarrer Sadegh Sepehri grössere Gruppen von ehemaligen Muslimen auf die Taufe vor. Sepehri leitet eine Gemeinde von 150 Iranern und sagte, dass er in seinen 20 Jahren in Berlin bereits 500 getauft habe. Dann machte er auf einen amerikanischen Kollegen in Süddeutschland aufmerksam, bei dem sich viermal so viele Muslime taufen liessen.
Dieser Pastor ist Mark A. Bachman, Gründer der freien baptistischen «Wort Gottes Gemeinde» in Nürnberg. Er ist seit zwei Jahren wieder in den USA, wo er am Hyles-Anderson College im Bundesstaat Indiana Missionare für den Einsatz in islamischen Ländern ausbildet. In einem Telefoninterview sagte Bachman, dass die meisten der 2.000 Ex-Muslime, die er in seinen 23 Jahren in Nürnberg getauft habe, Perser gewesen seien. Viele von ihnen berichteten, sie hätten Christus im Traum gesehen.
Aus Nürnbergs Hinterland kam derweil die Kunde, dass das Konversionsphänomen auch die tiefste Provinz erreicht hatte. In einer ländlichen lutherischen Gemeinde reichte ein Abendmahlshelfer mehreren dunkelhäutigen Kommunikanten, die ganz offensichtlich keine Franken waren, den Kelch. «Wer war denn das?» fragte er hernach seinen Pfarrer. «Ach», antwortete dieser, «das war wieder einmal eine persische Familie, die sich zum Christentum bekehrt hat.»
Dann meldete die «Westdeutsche Allgemeine Zeitung» aus Mülheim an der Ruhr, dass dort der BaptistenpastorHelmut Venzke zu Ostern 13 Iraner im Taufbecken seiner Kirche untergetaucht habe. «Dies geschieht in vielen Teilen Deutschlands», sagte Pastor Venzke gegenüber factum. «Es passiert überall dort, wo grössere Gruppen von Persern leben.»



Baptistenpastor Helmut Venzke
tauft Perser in Mülheim an der Ruhr



        Im März meldete der Norddeutsche Rundfunk, dass jährlich etwa 500 Perser und Afghanen zum christlichen Glauben übertreten. Dazu bemerkt Max Klingberg von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt: «Hier geschieht zweifellos etwas Bedeutendes, aber als geschulter Wissenschaftler ziehe ich es vor, mit Zahlen vorsichtig umzugehen.» Prof. Thomas Schirrmacher ist sich sicher: «In Wahrheit konvertieren jährlich tausend, vielleicht sogar tausende.»
«Präzise Daten lassen sich deshalb nicht ermitteln, weil die Landeskirchen und auch die katholische Kirche sie nicht bekanntgeben; sie befürchten, durch Mission den interreligiösen Dialog mit dem Islam zu stören», fuhr Schirrmacher fort.
Dazu passt die Aussage der Diakonisse Rosemarie Götz in Berlin, dass sie von der Pfarrerin der evangelischen Ortsgemeinde und auch der Superintendentin gemieden werde. «Die Pfarrerin hat uns noch nicht ein einziges Mal besucht.»
So kommt es, dass laut Schirrmacher vorwiegend Freikirchen frohgemut über Bekehrungen berichten. «Wir wissen, dass auch bibel- und bekenntnistreue Pfarrer der Landeskirchen ehemalige Muslime taufen, erfahren aber keine Statistiken», sagte Schirrmacher weiter. Kirchenrat Albrecht Hauser, ein langjähriger Missionar aus Stuttgart, fügt hinzu: «Uns ist bekannt, dass treue katholische Priester dies ebenfalls tun.» Aber auch die Katholische Kirche zögere aus Rücksicht auf den interreligiösen Austausch, konkrete Angaben zu machen, ergänzt Schirrmacher.
Soviel scheint jedoch festzustehen: In Deutschland werden mehr ehemalige Muslime Christen als umgekehrt. Schirrmacher verwies dazu auf einen Bericht des Zentralinstituts Islam-Archiv Deutschland in Soest, wonach 2010 rund 500 Deutsche zum Islam übergetreten seien. Dabei handele es sich nach den Angaben des Instituts allerdings vorwiegend um die deutschen Ehefrauen muslimischer Einwanderer und um nominelle Christen, die sich von der Konversion Geschäftsvorteile in islamischen Ländern versprächen. Die Übertritte der Perser zum christlichen Glauben hätten demgegenüber eine ganz andere Qualität, zumal ihnen ein langer Taufunterricht vorangehe.
In Pfarrer Martens’ Mariengemeinde dauert dieser Unterricht vier oder mehr Monate. Die Taufanwärter müssen die Bibel und das Glaubensbekenntnis studieren, auch Luthers Kleinen Katechismus, die Liturgie und das evangelische Liedgut. «Besonders die Liturgie fasziniert sie, weil sie in ihrem früheren Glauben völlig fehlte», sagte Martens.  In vielen Gemeinden müssen die Kandidaten schriftliche und mündliche Examen ablegen und am Taufstein dem Islam abschwören.
«Im Taufunterricht erläutern wir den Unterschied zwischen dem Gott der Christenheit und dem Allah des Islams», betonte Schwester Rosemarie im Einklang mit den interviewten Geistlichen. Ein schöner Vergleich stammt von dem lutherischen Pastor Wilfried Kahla aus Hannover, der in seiner langen Missionarslaufbahn 600 Perser getauft hat, darunter einen Mullah, einen iranischen Polizeipräsidenten und einen Nachfahren Mohammeds. Kahla pflegte zu sagen: «Der Islam ist wie eine Strickleiter, mit der man versucht, zu Gott zu kommen. Wir schaffen es ein paar Stufen aufwärts, aber mit jeder Sünde fällt man von der Leiter und muss wieder von vorn beginnen. Christen brauchen keine Leiter, weil sich Jesus für sie auf den Weg zur Erde gemacht hat. Christen haben Erlösung – Moslems haben keine.»
Wie kommt es nun aber, dass sich von den vier Millionen Muslimen in Deutschland vor allem die Iraner dem Christentum zuwenden, dieser Religion, deren Gläubige vor Gott keine Angst zu haben brauchen? Nach Angaben der Geistlichen hat dies etwas mit ihrem hohen Bildungsstand zu tun. Die meisten persischen Einwanderer seien Akademiker und Geschäftsleute oder Studenten. In den Augen der akademischen Oberschicht hat der Islam nach Angaben des einzigen hauptamtlichen Perser-Seelsorgers der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Pastor Hans-Jürgen Kutzner, jegliche moralische Integrität verloren.
Dies trifft auch auf die Elite im Iran selbst zu. In seinem Gemeindebrief zitierte Pastor Martens «Schätzungen, ...dass  bis zu 50 Prozent der jüngeren, gebildeten Bevölkerung im Iran dem Christentum zuneigen». Dabei bezog er sich auf einen Bericht des Senders Deutschlandradio. Max Klingberg von der IGFM hält dies zwar für übertrieben. Der amerikanische Pastor Bachman gab hingegen zu bedenken, dass 17 Millionen der 79 Millionen Iraner sich jeden Tag die Programme christlicher Satellitensender aus dem Ausland ansähen.


US-Baptistenpator Mark A. Bachman
tauft Perserin in Nürnberg


Könnte es nun sein, dass viele Iraner in Deutschland nur deshalb konvertieren, weil sie meinen, dann schneller als Asylanten anerkannt zu werden? Martens, Schwester Rosemarie und  Pastor Bachman verwerfen diesen Gedanken. Sie weisen darauf hin, dass die meisten Konvertiten so leichtfertig nicht ihren hohen Lebensstandard in der Heimat gegen Armut in der Fremde eingetauscht hätten. «So etwas macht man nicht aus materiellen Gründen», sagte Schwester Rosemarie, «und ausserdem würden sich diese Perser dann nicht so emsig auf ihre Taufe vorbereiten und so treu zum Gottesdienst kommen.»
Dazu Martens zornig in seinem Gemeindebrief: «Es ist... nicht einfach, staatliche Stellen davon zu überzeugen, dass diese Christen aus dem Iran es mit ihrem Glauben ernst meinen... Dies hat die groteske Konsequenz, dass hier in Deutschland staatliche Gerichte mittlerweile zu Religionsgerichtshöfen mutieren.»
Wie seine deutschen Amtsbrüder, versicherte der Amerikaner Bachman darüber hinaus: «Ich habe allen meinen vormals muslimischen Taufanwärtern immer klargemacht, dass ihre Bekehrung sie nicht automatisch davor schütze, von den deutschen Behörden in den Iran zurückgeschickt zu werden.»
Doch zurück zu Bischof Schönes Bild vom lachenden Gott in Deutschland: Es wird vielleicht am deutlichsten von der Genese der persischen Erweckung in der Marienkirche bestätigt. Sie nahm ihren Anfang in Sachsen, der Wiege der Reformation, wo Christen mittlerweile zu einer aussterbenden Art reduziert sind. Vor zwölf Jahren führte die Trinitatis-Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Leipzig Deutschkurse für Asylbewerber ein, zumeist persische Muslime. Als Textbuch für diese Kurse wurde die Lutherbibel benutzt. Auf diese Weise lernten die  Flüchtlinge nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch die Heilige Schrift der Christen kennen. Bald baten mehrere Ausländer, getauft zu werden. «Inzwischen machen sie ein Drittel unserer 150 Gemeindeglieder aus», sagt der Pfarrer der lutherisch-freikirchlichen Trinitatis-Gemeinde, Markus Fischer.
Darunter sind Amin (Name geändert) und seine junge Familie. Amin, ein Nachfahre Mohammeds, war in Teheran ein erfolgreicher Geschäftsmann, der die ganze Welt bereiste, bis ein armenischer Freund ihn in die christliche Lehre einführte. Zusammen mit seiner schwangeren Frau flüchtete Amin daraufhin nach Europa. Sein Schicksal gleich dem des früheren Eigentümers eines Einkaufszentrums in der iranischen Hauptstadt. Dieser Mann, nennen wir ihn Hamid, wurde bei einer Razzia gegen eine Hauskirche festgenommen und gefoltert, ehe er sich nach Deutschland absetzte.
In dieser Hauskirche, berichtete Hamid, habe er zu ersten Mal gehört, wer Gott wirklich sei: «Ein liebender Vater, der eine persönliche Beziehung zu jedem Menschen möchte.» Bisher hatte er sich Allah nach islamischer Lehre als einen fernen, strafenden Gott vorgestellt. Zu Ostern gehörte Hamid zu den Täuflingen in Martens’ Marienkirche in Berlin, wohin er gezogen war, nachdem die deutschen Behörden seinen Asylantrag anerkannt hatten.
Andere Perser aus der Leipziger Trinitatiskirche zogen nach Hamburg, Dresden und Düsseldorf, wo sie sich – wie Hamid in Berlin – örtlichen Gemeinden der SELK  anschlossen und sogleich mit grossem Erfolg unter ihren Landsleuten zu missionieren begannen.
Unterdessen hat in Leipzig die Geschichte der Trinitatis-Kirche auch gebürtige Deutsche neugierig gemacht. Und nun  ist die kleine Friedhofskapelle, in der sie ihre Gottesdienste feiert, für die wachsende Gemeinde zu klein geworden, so dass sie neuerdings über einen Pachtvertrag für ein grosses, unterbenutztes Gotteshaus der sächsischen Landeskirche verhandelt.
Thomas Schirrmacher hat seine Freude an solchen guten Nachrichten, die einer Umkehr der radikalislamischen Revolution des Jahres 1979 im Iran gleichkommt. Er sagt: «Ist es nicht merkwürdig, dass sich der Revolutionsführer Ajatollah Chomeini als einer der grössten christlichen Missionare unserer Zeit entpuppen könnte?»
            Nicht, dass der Ayatollah ein Christ gewesen wäre; nein, er war ein christlicher Missionar wider Willen. Nach einhelligen Aussagen vieler Konvertiten waren es paradoxerweise der Fanatismus, die Exzesse, die Brutalität, die Grausamkeit und Primitivität des von ihm gestifteten islamischen Regimes, die unter der Elite dieses hochzivilisierten Volkes die Sehnsucht nach einer geistlichen Alternative schürten. Diese Alternative finden gebildete Perser jetzt im Christentum, und damit offenbart sich Gott wieder einmal als der Grossmeister der Ironie.

Friday, June 8, 2012

Des Menschen Faust in Gottes Gesicht

Der amerikanische Wendepunkt

(Aus "Factum" Juni 2012)

 Von UWE SIEMON-NETTO

Vor Jahrzehnten erfand mein Doktorvater Peter L. Berger eine launige Formel, die geistliche Lage Amerikas zu beschreiben. Berger, der führende Religionssoziologe in den USA, ist ein gebürtiger Wiener mit einem Faible für die Ironie des österreichischen Schriftstellers Robert Musil (1880-1942), dessen unvollendetes Buch „Der Mann ohne Eigenschaften“ zu den einflussreichsten Romanen des 20. Jahrhunderts zählt. Bergers Aphorismus hört sich so an: „Die frömmsten Menschen der Welt sind die Inder; die am wenigsten frommen sind die Schweden. So gesehen, sind die Amerikaner ein Volk von Indern, das von Schweden beherrscht wird.“

Ich habe in meinen Studienjahren in Boston oft über Bergers Apercu gelacht, weil es, wie jede gute Karikatur, der Wahrheit sehr nahe kam. Heute befürchte ich, dass das nicht mehr ganz zutrifft. Die USA hatten in ihrer 236-jährigen Geschichte etliche Präsidenten, deren Glauben von der christlichen Orthodoxie abwich; so waren die ersten drei Deisten, also Leute, die zwar den göttlichen Ursprung des Universums anerkannten, das weitere Eingreifen Gottes in die Geschichte jedoch bestritten. Aber sie stellten sich nicht mitten im Wahlkampf aufs Podium und erklärten dem tumben Volk: „Ich bin aufgeklärt und ihr seid es nicht.“

Barack Obama dürfte, um bei Bergers Bonmot zu bleiben, der erste „Schwede“ sein, der dergestalt herablassend zu seinen „Indern“ sprach.  In einem Fernsehinterview gab er bekannt, dass er nunmehr das Recht gleichgeschlechtlicher Paare unterstütze, sich amtlich trauen zu lassen; vor vier Jahren hatte er genau dies verneint. War dies nun – sechs Monate vor der Wahl – tollkühn? War es, wie konservative Kommentatoren meinen, der Verzweiflungsakt eines Staatsmannes, der sich keiner wirtschaftlichen und aussenpolitischen Erfolge brüsten kann und folglich eine Koalition der Minderheiten zusammenbastelt – der Linksliberalen, der harten Linken, der Schwarzen, der Latinos, der Homo-, Bi- und Transsexuellen, der Feministinnen, zumal solcher, die furios für das „Recht“ der Frau eintreten, ihre Leibesfrucht zu liquidieren?

Oder haben Obama und seine Berater sich überzeugt, dass die meisten Amerikaner von „Indern“ zu „Schweden“ mutiert sind. Die spannende Frage ist, ob Amerikaner infolgedessen  nicht mehr dadurch verprellt werden können, dass ihr Präsident ein „säkulares, postchristliches, homosexuelles Amerika anstrebt“, wie mein Kollege Jeffrey T. Kuhner dies in der Internetpublikation „World Tribune“ formulierte. Steuert er deshalb sein Land ausgerechnet jetzt einem kulturellen Wendepunkt entgegen?

Obama „streckt seine Faust in Gottes Gesicht“, kommentierte Franklin Graham, Billy Grahams Sohn, diesen Vorgang, der deshalb so Angst erregend ist, weil er viel weiter reichende Konsequenzen hat als jedes modische Bekenntnis zur „Toleranz“. Hier geht es ja nicht um staatliche Hochherzigkeit in Fällen bibelwidrigen Sexualverhaltens. Hier ist nicht die Rede von einer Feld-Wald-und-Wiesen-Sünde, von der uns dank Gottes Gnade der Glaube an Christi Sühnetod am Kreuz erlöst. Hier verkündet der höchste Mann im Staate eben nicht nur seine Neutralität gegenüber biblischen Gesetzen wie dem 6. Gebot oder auch dem Verbot der Sodomie.

Nein, dies ist viel dramatischer: Hier empört sich die Obrigkeit der Grossmacht Amerika wider die verborgene Herrschaft Gottes im weltlichen Reich. Hier erleben wir den Versuch einer Usurpation seiner Souveränität. Obama vergreift sich an den Parametern, die Gott den Herrschern für ihr Amt gesetzt hat, damit die Welt nicht aus dem Ruder läuft. Denn nach christlichem Verständnis ist die Ehe zwischen Mann und Frau der Baustein der Familie, und die Familie ist wie der Staat und die Wirtschaft, eine Schöpfungsordnung, ein Bollwerk gegen das Chaos, das Tohuwabohu. Dies lässt sich auch nichtchristlich formulieren: Um im November nicht abgewählt zu werden, tritt Obama in Angst erregender Weise an die Spitze jener Kräfte, die das Naturrecht ausser Kraft setzen wollen.

Amerikas bisherige „indische“ Mehrheit machte sich über diese Absicht von „Schweden“ wie Obama keine Illusionen. Deshalb verabschiedeten 31 der 50 Bundesstaaten Gesetze, in denen die Ehe ausschliesslich als der Bund zwischen einem Mann und einer Frau definiert wurden. So steht es auch in einem Bundesgesetz, das die Schwulenlobby, auf deren Seite sich augenscheinlich jetzt auch der Präsident geschlagen hat, zu kippen trachtet.

Wieso scheut sich Obama also nicht mehr, seine „Inder“ vor den Kopf zu stoßen? Ganz einfach: weil sie nicht mehr die Mehrheit sind. Nach jüngsten Umfragen befürworten bereits 51 Prozent der Amerikaner das Heiratsrecht für Homosexuelle, und Demoskopen haben ermittelt, dass sich diese Werteerosion fortsetzen wird. Dies ist das Ergebnis eines faszinierenden Indoktrinationsgeschichte, die ich seit 50 Jahren verfolge: Nach der Faustregel „steter Tropfen höhlt den Stein“ bearbeitet die Lobby der Homosexuellen, die höchstens vier Prozent des Volkes ausmachen, mit einer geschickten Strategie die öffentliche Meinung.

Das begann damit, dass sie sich, wie auch die Feministinnen, an die schwarzen Bürgerrechtler anhängte, bis sich in immer mehr Köpfen die Analogie durchsetzte: Es war unrecht, Afro-Amerikaner zu benachteiligen, also ist es auch falsch, gegen eine sexuelle Minderheit zu diskriminieren. Die Differenz zwischen Pigmentunterschieden und abartiger Fleischeslust zu sehen, setzt die Fähigkeit zu kritischem Denken voraus. Diese Fähigkeit ist aber abhanden gekommen, wie jeder bezeugen kann, der einmal im öffentlichen Schul- und Hochschulwesen der USA gelehrt hat.

 Die „schwedischen“ Autoren der Postmoderne haben dafür gesorgt, dass auch die vormaligen „Inder“ zunehmend meinen, ein jeder könne sich seine eigene Wertewelt selbst zurechtzimmern. Ein befreundeter Professor einer methodistischen Universität berichtete mir einmal voller Schrecken, dass seine Studenten ausnahmslos meinten, man dürfe Hitler doch nicht verdammen, weil er ja „aus seiner eigenen Sicht, wenn nicht aus unserer, Recht gehabt haben mag“.

So kam es, dass in Amerika heute „Schweden“ über immer mehr „Schweden“ herrschen, während die frommen „Inder“ im Rückzug sind. Ob dies schon so weit vorangeschritten ist, dass es Obamas Wahlchancen steigert oder zumindest nicht mindert, wird sich im November zeigen. Aber dass sich hier der Marsch einer Weltmacht ins Tohuwabohu abzeichnet, muss uns nachdenklich stimmen, obwohl gleichgeschlechtliche Ehen in Teilen unseres Kontinents längst üblich sind.

Stockholm hat gar eine lesbische Bischöfin, Eva Brunne heisst sie.  Frau Brunne lebt mit einer anderen Priesterin in einer kirchlich gesegneten Partnerschaft. Die lutherische Kirche von Schweden befürwortet homosexuelle Ehen. Aber Schweden ist um viele Nummern kleiner als die USA und hatte nie eine „indische“ Mehrheit, um bei Bergers Bild zu bleiben. Zwar macht dies die skandinavische Verirrung nicht weniger schandbar, nur dürfte der Schaden geringer sein. Schwedischer Aberwitz wird nicht automatisch nachgeahmt, amerikanischer Wahnsinn aber sehr wohl. Und genau hier liegt das Problem, das Obama jetzt zu einem neuen Höhepunkt gebracht hat.

Es war Amerika, das 1973 die globale Abtreibungslawine losgetreten hatte, die nunmehr in der ganzen westlichen Welt jedes Jahr Millionen ungeborener Kinder  den Tod bringt. Es war Amerika, das für die Homosexualität und sogar den Sadomasochismus auch in den Kirchen die Tür aufgestossen hat. Jetzt nehmen sich deutsche evangelische Landeskirchen daran ein Beispiel und gestatten gleichgeschlechtlichen Paaren den Einzug ins Pfarrhaus.

Ich liebe Amerika, mit dem ich seit einem halben Jahrhundert eng verbunden bin, aber ich sehe auch den ethischen Unrat, mit dem es die Welt überschwemmt. Allzu gern mokieren sich Christen in meiner amerikanischen Wahlheimat über die angeblich verheidete Alte Welt. Aber jetzt befürchte ich, dass eben deren Zustand, nennen wir ihn das „allgemeine Schwedentum“, unaufhaltsam über den Atlantik zurückschwappen wird.

Ich stamme aus Sachsen, der Wiege der Reformation, einem Teil der ehemaligen DDR. Nach einer Studie der Universität von Chicago glauben in diesem Gebiet, Luthers Heimat, nur noch 13 Prozent der Menschen an Gott. Dieses Schreckensergebnis ist heute schlimmer als vor der deutschen Wiedervereinigung. Aber treibt dies die Landeskirchen zu einer gründlichen Mission in ihren eigenen Territorien an? Halten Sie sich an Jesu Befehl: „Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes”(Matthäus 28,19)?

Nein, das nun wirklich nicht. Dabei kann ich mir kaum ein wichtigeres Missionsfeld vorstellen als dieses Land, dessen Kinder oft ohne irgendwelche Werte aufwachsen, ein Land darüber hinaus voller muslimischer Einwanderer und Flüchtlinge, unter denen nur wenige vereinzelte Pfarrer und die Freikirchen evangelisieren, nicht aber die Landeskirchen, die befürchten, dass derlei Aktivitäten ihren verquasten „interreligiösen Dialogen“ in den Weg kommen könnten. Statt Seelen zu retten, kaprizieren sie sich auf den aus Amerika importierten Tick, die göttliche Schöpfungsordnung selbst im Pfarrhaus unterwandern zu lassen.

Welcher Irrsinn wird Europas Gottesdiener erst befallen, wenn die amerikanischen Wähler im November nicht Obamas Faust aus Gottes Gesicht ziehen? Wir Europäer haben inzwischen gelernt, dass es keine amerikanische Abscheulichkeit gibt, die bei uns nicht nachgeäfft würde. Wenn ein chaotische Endsieg der amerikanischen „Schweden“ über die amerikanischen „Inder“ dazugehören sollte, dann lasst uns jetzt schon das „Kyrie eleison“ einüben!











Tuesday, June 5, 2012

Schlafender Glaubensriese in den USA


Luthertum in Nordamerika:
Gespalten, schwach und dennoch stark

UWE SIEMON-NETTO

 (Aus "Diakrisis" Juni 2012)

Heinrich Herrmanns hat in Diakrisis (4/2011) trefflich geschildert, was Glieder der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika (ELCA) bewog, zwei neue, bekenntnistreue Glaubensgemeinschaften zu bilden: die von einem Bischof geführte Nordamerikanische Lutherische Kirche (NALC), der 100.000 der neun Millionen US-Lutheraner angehören, und die lose verknüpften „Lutherischen Gemeinden in der Mission für Christus“ (LCMC) mit insgesamt etwa 600,000 Gliedern. Auch ich bin ein ELCA-Flüchtling, habe aber den Weg zur 2,3 Millionen Mitglieder zählenden Missouri-Synode (LCMS) gewählt, der zuweilen  uncharmanten aber doch gewissenhaften Bewahrerin unserer Bekenntnisse. Aus meiner Flüchtlingsperspektive sei nun Herrmanns’ Bericht ergänzt, teils mit bedrückenden, teils auch hoffnungsträchtigen Details.

Die NALC ist theologisch hochelegant jedoch noch klein, wie die meisten der mindestens 44 Glaubensgemeinschaften in den USA, die sich lutherisch nennen aber zum Teil keine Kanzel- und Altargemeinschaft pflegen. Lehrmäßig steht die NALC auf solidem Boden, im Gegensatz zu aparten Zwergen wie der dem Papst ergebenem aber von ihm nicht anerkannten „Anglo-Lutherisch-Katholischen Kirche“, der Lästerer nachsagen, dass sie mehr Erzbischöfe als Gemeindeglieder habe. Die NALC unterscheidet sich auch vorteilhaft von unerbittlich strengen Glaubensgemeinschaften wie der Wisconsin-Synode (WELS), deren fast 400.000 zumeist deutschstämmigen Gläubigen untersagt ist, mit anderen Christen zu beten, Lutheranern eingeschlossen.

Angeblich hat Präsident Theodore Roosevelt (Amtszeit: 1901–1909) für das Luthertum den Begriff des „schlafenden Riesen“ geprägt; vom baptistischen Starprediger Billy Graham wissen wir, dass er dies wirklich gesagt hat. Wie dem auch sei, der Riese wirkt oft schlapp. Das mag mit seinem oft zänkischen Naturell zu tun haben oder seinem unterentwickelten Selbstbewusstsein; beide Faktoren haben den Giganten oft auf Abwege geführt und lösen immer neue Schismata aus.

Wieso die lutherische Stimme in der Kakophonie des amerikanischen Protestantismus so wenig gehört wird, ist nur mit Mühe nachzuvollziehen. Lutheraner sind hier immer eine Marginalie geblieben, obwohl es sie bereits in Amerika gab, ehe die heute größten protestantischen Kirchen in den USA, die Baptisten und die Methodisten, überhaupt existierten. Schon 1607 hatte ein bekennender Lutheraner in Jamestown (Virginia) die erste britische Kolonie mitbegründet: der Breslauer Pfarrerssohn und Arzt Johannes Fleischer, der aber bald an Typhus starb. Das war 30 Jahre bevor Roger Williams die erste baptistische Gemeinde schuf, und 175 Jahre bevor in Baltimore die amerikanische Methodistenkirche entstand.

Seither erlangten Lutheraner in der Neuen Welt Ruhm, etwa der Pfarrer Johann Peter Mühlenberg, der im Revolutionskrieg zum Generalmajor in George Washingtons Armee aufstieg. Amerikanische lutherische Theologen brillierten mit Meisterwerken, zum Beispiel Jaroslav Pelikan (1923-2006), der einen wesentlichen Teil der englischsprachigen Ausgabe des Gesamtwerkes Martin Luthers editierte, dann aber, wie etliche lutherische Pfarrer in den letzten Jahrzehnten, zur Orthodoxie konvertierte, weil er diese für ekklesiologisch authentischer hielt.

Illustre Lutheraner haben die theologischen Fakultäten von Eliteuniversitäten wie Harvard und Yale geleitet; auch heute haben lutherische Theologieprofessoren aus den USA ein weltweites Renommee, darunter der Ethiker Robert Benne, der Hermeneutiker James Voelz und die Systematiker Robert A. Kolb, Charles P. Arand und mein Lehrer Carl E. Braaten, der theologische Chefberater der neuen NALC. Aber Braaten gehört er NALC gar nicht an; er ist in der ELCA geblieben, weil ihn die lutherische Anlage zur Kirchenspaltung verdrießt.

Ich kenne seine Gemeinde nicht, bin aber sicher, dass sie zu den vielen gehört, die sich weigern, die ELCA-Häresien mitzutragen, namentlich ihre feministischen und homophilen Irrwege. Und hier sind wir bei einem weiteren Kuriosum des amerikanischen Luthertums: Hunderte strenggläubiger Gemeinden bleiben wider Willen in der ELCA, weil sie aufgrund ihrer Verfassungen ihren gesamten Besitz einschließlich der Gotteshäuser verlören, wenn nicht jedes einzelne Mitglied ihrem Übertritt in eine andere Glaubensgemeinschaft wie die NALC zustimmt. Viele dieser Gemeinden haben aber de facto ihren regionalen Bischöfen und der obersten Kirchenleitung in Chicago die Gefolgschaft versagt und den Geldhahn abgedreht. Die Folge sind zunehmend menschenleere Büros in den zentralen und regionalen Kirchenämtern der ELCA, weil diese ihre Wasserköpfe abbauen müssen.

Andere Gemeinden haben sich gänzlich unabhängig gemacht, weswegen es fast unmöglich ist, präzise zu ermitteln, wie viele Lutheraner es in den USA  überhaupt gibt. Der geistreiche Rundfunkspötter Garrison Keillor, lästerte einmal über die Menschen im amerikanischen Mittelwesten, dass sie eigentlich alle Lutheraner seien. „Es gibt methodistische Lutheraner, anglikanische Lutheraner, katholische Lutheraner. Selbst die Atheisten sind hier Lutheraner. Der Gott, an den sie nicht glauben, ist der Gott Martin Luthers.“

Der notorische Spaltergeist im US-Luthertum hat unterschiedliche Wurzeln, teils legitime wie die Häresien, die sich der Hochschulen und Hierarchie der ELCA bemächtigt haben, teils tribalistische; die Missouri- und Wisconsin-Synoden wirken oft wie eingewecktes Deutschtum aus dem 19. Jahrhundert, während mehrere kleinere Kirchen ihre estnischen, lettischen, norwegischen, schwedischen und slowakischen Ursprünge herausstreichen. Eine weitere Wurzel ist freilich eine gegenteilige Tendenz, nämlich ein pathologischer Drang, sich den „schickeren“, „typisch amerikanischen“ Glaubensgemeinschaften anzugleichen, den so genannten „Mainline“-Kirchen. Dies ist eine alte Plage. Schon Samuel Simon Schmucker (1799-1873), der Gründer der lutherischen General-Synode, war so erpicht darauf, sich den tonangebenden Calvinisten zu unterwerfen, dass  er die Augsburger Konfession durch eine verstümmelte Bekenntnisschrift ersetzen wollte, die ihnen eher zusagte.

Auch die Krise in der ELCA, die 1988 aus der Fusion dreier lutherischer Kirchen hervorging und dann flink von 5,2 Millionen Gliedern auf 4,2 Millionen schrumpfte, leitet sich zum Teil von dem Bedürfnis ab, vom „Mainline“-Protestantismus ernst genommen zu werden. Ich habe dies aus nächster Nähe beobachtet, erst als 50-jähriger   Theologiestudent an einer ELCA-Hochschule, dann als Ressortleiter für Glaubensfragen bei der Nachrichtenagentur UPI. Das war ein ärgerliches Erlebnis.

„Was sind überhaupt Lutheraner?“ frotzelten Amerikaner früher. Die Antwort lautete: „Das sind Bier trinkende Episcopalians (US-Anglikaner).“  Letztere gelten als Sherrytrinker, deren schlanke Geistliche  angeblich seltener als die zuweilen sehr korpulenten lutherischen Pastoren vor dem Problem stehen, wo sie das ihre Alben raffende Zingulum schnüren sollen: oberhalb oder unterhalb des Bauches?

Die Episkopalkirche (ECA) ist nur halb so groß wie die ELCA und eigentlich ein Etikettenschwindel, ein katholisch geordneter Calvinismus in bunten Gewändern, aber eben gesellschaftlich feinste geistliche Adresse. So brennend war in der ELCA die Begierde, im Windschatten dieser im Steilsturz sinkenden Denomination salonfähig zu werden, dass sie sich nach langjährigen Verhandlungen mit ihren Theologen über Kanzel- und Altargemeinschaft auf eine pure Eulenspielerei einließ: Die ELCA unterwarf sich den Ordinationsprinzipien der ECA; alle lutherischen Bischöfe und Pfarrer sind fortan in der „historischen Sukzession“ zu weihen, freilich einer, die weder vom Vatikan noch von den Ostkirchen anerkannt wird. Die Hoffnung der Lutheraner, dass sich die Anglikaner im Gegenzug wenigstens die Augsburger Konfession zueigen machten, erfüllte sich nicht.

Dieses Arrangement hatte zwei Folgen: Erstens löste es einen Massenexodus bekenntnistreuer Gemeinden aus der ELCA ins äußere oder innere Exil aus; zweitens infizierte sich die ELCA mit allen Zeitgeistseuchen der Episkopalkirche, nicht nur in punkto Sexualität. Wie selbstzerstörerisch sich Teile dieser beiden Partnerkirchen in die theologische Perversion hineinsteigern, zeigen zwei Beispiele aus Südkalifornien: In Los Angeles entschuldigte sich der Bischof der Episkopalkirche in einer Predigt für den Versuch anglikanischer Missionare, Hindus zu bekehren; dann konzelebrierte er mit Hindu-Priestern das Abendmahl. Einige Zeit später traute eine lutherische Pfarrerin in einem Nachbarort zwei Männer in einem Sakramentsgottesdienst, wobei sie einem Blindenhund die konsekrierte Hostie in die Schnauze legte.

Der deutsche Leser mag in dieser Tragikomödie aus der Neuen Welt triste Parallelen zur Lage in der eigenen Heimat wiedererkennen. Aber damit ist gottlob nicht alles gesagt, denn in Amerika steht dem geistlichen Hinriss ein robustes Glaubensleben entgegen, auch und insbesondere im Luthertum, das ungeachtet seiner bärbeißigen Eigenart eben auch über eine mächtige  prophetische Stimme und eine wichtige Lehrfunktion verfügt. In Deutschland mit seinen Landeskirchen wird dies oft deswegen nicht erkannt, weil in Amerika die Gemeinden eine viel wichtigere Rolle spielen.

Was ich jetzt schildern werde, ist die Situation der „Faith Lutheran Church“, einer hochkirchlichen Gemeinde der Missouri-Synode in Capistrano Beach (Südkalifornien). Ähnliches könnte ich zweifellos auch von treuen Gemeinden der NALC, LCMC oder sogar der ELCA berichten, die sich unter anderem deshalb von der Missouri-Synode fernhalten, weil sie Frauen ordinieren, während deren Theologen Pfarrerinnen für eine ontologische Absurdität halten; diese Kluft wird sich vor der Parusie nicht überwinden lassen.

Was eigentlich seit fast 2.000 Jahren bekannt sein sollte,  ist im amerikanischen Luthertum Realität: In der Gemeinde, nicht in irgendwelchen Kirchenbürokratien, lodert das Glaubensfeuer. Ob Gemeinden nun winzig oder riesig sind – die kleinsten haben nur sieben oder acht, die größten über 6.000 Glieder – ist dabei nicht ausschlaggebend. Der „Platzregen des Heiligen Geistes“, von dem Luther sprach, geht über Zwergen wie Riesen nieder, oder auch nicht, weniger hingegen über Landeskirchenämtern. Dieser Wahrheit sollte auch die EKD eingedenk sein, in deren Bereich Geldknappheit mit Fusionen  bekämpft wird, weil ihren Bediensteten nichts Besseres einfällt.

Meine Kirche nennt sich kurz „Faith Capo“; sie mag als Fallstudie einer erfolgreichen, wachsenden und doch traditionellen lutherischen Gemeinde in den USA dienen. Sie hat rund 370 Mitglieder aller Altersgruppen; davon kommen knapp 300 jeden Sonntag zu einem der drei Sakramentsgottesdienste. Fast 60 Prozent von ihnen sind „Überläufer“ aus benachbarten, gesetzesorientierten und Lebenshilfe erteilenden Megakirchen, Suchende, die bei „Faith Capo“ das fanden, was ihnen vorher fehlte, nämlich das Wort der Vergebung; ihre Suche nach Absolution resultiert von dem wachsenden Sündenbewusstsein, das Religionswissenschaftler in den USA seit einigen Jahren konstatieren und sich unter anderem  darin zeigt, dass heute nur noch eine Minderheit der Amerikaner das Recht der Frau auf Abtreibung befürwortet.

Einige waren zu „Faith Capo“ gestoßen, nachdem sie unter der Woche an unseren morgendlichen Beichtgottesdiensten in der Passionszeit teilgenommen und dabei die Absolution mit Kreuzeszeichen empfangen hatten; genau dies hatte ihnen in ihren Megakirchen gefehlt. Meist sind diese Neulinge jüngere Ehepaare mit Kindern; sie werden erst einmal in monatelangen Kursen „eingeluthert“, will heißen: in die lutherische Kreuzestheologie, die Sakramentslehre, die sorgfältige Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, in die üppige Liturgie und unser Liedgut aus dem 16. und 17. Jahrhundert eingewiesen. Es sind vor allem die 60 Prozent Konvertiten, die unsere Choräle mit einer solchen Kraft schmettern, dass mir, einem Einwanderer aus Deutschland, die Tränen kommen und unsere neue Organistin, eine Katholikin, sagt, so viel Sangeslust habe sie noch nie erlebt. Dieser herzerfrischende Gesang ist für mich denn auch das sicherste Zeichen, dass ich einer kerngesunden Gemeinde angehöre.

Aber nicht nur das: Nirgendwo habe ich eine gewissenhaftere Katechese und ein anspruchsvolleres Lehrprogramm erlebt, selten so geschliffene 20-Minuten-Predigten, die grundsätzlich im Evangelium münden und bei denen es der Pfarrer nie versäumt, auf den Gekreuzigten über dem Altar zu weisen. Noch nie habe ich so viele Kleinkinder und tadellos erzogene Jugendliche im Gottesdienst gesehen, nie habe ich schließlich jeden Sonntag in so hochkarätigen Erwachsenenforen gesessen wie in Faith Capo; jeden Sonntag spricht ein Gastreferent vor 80 bis 100 Gemeindegliedern über anspruchsvolle theologische Themen wie Martin Chemnitz’ Buch von den beiden Naturen Christi oder den theologischen Umgang mit Menschen, die an ihren Kirchen zerbrochen sind.

„Faith Capo“ ist nach amerikanischen Begriffen eine mittelgroße Gemeinde, die sich gleichwohl zwei gut bezahlte Pfarrer und einen Vikar gönnt, während sich in Deutschland drei- oder viermal größere Gemeinden keinen Geistlichen mehr leisten können. Wie ist das möglich? Das rechnet sich so: In Amerika gibt es keine Kirchensteuer, und Geistliche sind keine Beamten oder Angestellten sondern Freischaffende mit Pauschalverträgen. Unsere Gemeinde lebt von den Beiträgen und Spenden ihrer Mitglieder. Ihr Budget beläuft sich auf 553.581 Dollar im Jahr. Davon führt sie zehn Prozent ans Amt des Regionalpräses (Bischof) in Irvine und an die Kirchenleitung in St. Louis ab. Die beiden Pfarrer bekommen 45 Prozent oder 242.000 Dollar in Form von Gehältern Wohngeld und Sozialleistungen.

Das ist großzügig, aber dafür schuften sie auch. Ich habe im Gemeindehaus ein Büro direkt zwischen den Amtsstuben der Pfarrer Ronald Hodel und Jeremy Rhode und staune über das Arbeitspensum dieser beiden humorvollen, hoch gebildeten Männer. Im Durchschnitt sind sie wöchentlich 70 Stunden im Dienst. Er beginnt nach altluthericher Art früh am Montagmorgen mit dem Übersetzen der Predigttexte aus dem Hebräischen und Griechischen und zieht sich bis in die späten Abendstunden hin. Da sind zweimal in der Woche Privatbeichten, die diese Geistlichen in dem dann für andere geschlossenen Kirchenschiff direkt vor dem Altarraum abnehmen. Da sind -zig Alten- und Krankenbesuche in der Woche. Wird bekannt, dass ein Gemeindeglied ins Hospital eingeliefert wurde, ist binnen weniger Stunden ein Seelsorger an seinem Bett; dies ist auch mir zweimal passiert.

Da sind drei Sonntags- und mehrere Wochentagsgottesdienste zu gestalten, Bibelstunden, Konfirmandenunterricht, Jugend – und Altenarbeit und Frühmetten. Beim Studium der Webseite diese Kirche (www.faithcapo.com) gerät der Betrachter ins Schwindeln. Hier sind augenscheinlich lutherische Hennekes oder Stachanows am Werk. Dies kann ich bezeugen. Nur eine Pönitenz, die ihren deutschen Amtsbrüdern das Leben schwer macht, bleibt ihnen erspart: die Verwaltungsarbeit, die Finanzen, die Sorge um Reparaturarbeiten und Parkplätze. Damit haben sie nichts zu schaffen; das alles nehmen ihnen Ehrenamtliche aus der Gemeinde ab.

Wer wissen will, wie eine lebendige, dynamische Gemeinde funktioniert, der komme nach Capistro Beach. Natürlich sind keineswegs alle so; mein bärbeißiger Freund, der Theologe Rod Rosenbladt, sagt allen, die es hören wollen:  „Ich lasse jeden Sonntag auf dem Weg zum Gottesdienst neun andere LCMS-Kirchen links liegen, bevor ich in Faith Capo eintreffe.“ Auch ich bin manchmal versucht, meiner lutherisch-schismatischen Neigung zu frönen, namentlich dann, wenn ich mich über meine Lutheran Church-Missouri Synod ärgere, womit ich vor allem ihre phasenweise arg bornierte Leitung in St. Louis meine. In solchen Momenten tunke ich schon mal im Geiste meinen Fuß in den Tiber oder den Bosporus. Aber sobald ich mir Rom oder die Orthodoxie schönärgere, lacht mich Pfarrer Hodel aus und sagt: „Bleib’ doch einfach bei uns; hier bist du gut aufgehoben.“ Da hat er auch wieder Recht.


Der deutsche Journalist  Dr. Uwe Siemon-Netto leitet das Center for Lutheran Theology and Public Life in Capistrano Beach, Kalifornien.

Friday, April 20, 2012

Teuflische Friedensperspektiven


(Aus Factum, Schweiz, April 2012)

Von UWE SIEMON-NETTO

Der Name des Teufels leitet sich bekanntlich vom griechischen Wort Diabolos ab, zu Deutsch: der Durcheinanderwerfer.  Es liegt in der Natur Satans, dass er eine gute Sache ins Gegenteil umzukehren trachtet, zum Beispiel den Friedenswunsch. Dieser Wunsch lässt sich, der Leser verzeihe mir das kesse Wortspiel, auch „auf Teufel komm’ ‚raus“ stillen, nicht weil die Welt dadurch besser würde, sondern weil Wahlkampf ist und das Stimmvolk einen kostspieligen Waffengang nicht mehr mag. Dann wird nach einer „Auswegsstrategie“ gesucht, wird ein „ehrenhafter Friede“ angestrebt, wird heimlich mit dem Gegner verhandelt, so als gelte es, zu entscheiden, ob ein Hohenzollernkönig oder eine Habsburgerkaiserin fortan über Schlesien herrschen werde.

Aber so harmlos wie zu Zeiten Friedrichs des Grossen und Maria Theresias ist das nicht mehr. Heute hat es der Westen mit Feinden zu tun, die sich in der zynischen Gewissheit wiegen, dass Demokratien „psychologisch und politisch nicht in der Lage sind,  einen sich lange hinziehenden Krieg zu führen“, wie der nordvietnamesische Verteidigungsminister Vo Nguyen Giap es vor einem halben Jahrhundert formulierte. Die Feinde der Freiheit und der Menschenrechte haben Geduld, Demokraten haben es nicht. Wenn sich kein eindeutiger Sieg in einem annehmbaren Zeitraum abzeichnet, sind Demokraten zu fast jedem Kompromiss bereit, und sei er noch so beschämend. Das sage nicht ich; das sagte Giap, der kommunistische Meisterstratege von Hanoi. Aber ich habe vor 40 Jahren als Kriegsberichterstatter in Indochina miterlebt, dass Giap uns richtig einschätzte. Und in Afghanistan erleben wir’s jetzt wieder. In den USA und Europa fordern Mehrheiten den Truppenabzug, egal, was danach geschieht, nämlich, dass dann die Hölle los sein wird.

Die Hölle? Nun ja, dies im wörtlichen Sinne zu behaupten, wäre untheologisch. Also sagen wir: Vorhölle. Oder wie sonst wäre dieser Zustand zu beschreiben: Alle Frauen und Mädchen werden unter Hausarrest gestellt und dürfen das Haus nur von Kopf bis Fuss verhüllt in Gesellschaft eines männlichen Verwandten verlassen. Wenn unter ihrer Burka Millimeter ihrer Fesseln aufblitzen oder ihre Schuhe quietschen, droht ihnen die Prügelstrafe. Sie dürfen nicht lesen und schreiben, keine Geographie, Geschichte oder Mathematik  lernen und keinen Beruf ausüben. Sie müssen in verdunkelten Räumen leben und wegen des Mangels an Sonnenlicht unter  Hautkrankheiten leiden. Sie sind unterernährt und werden unzureichend oder überhaupt nicht medizinisch versorgt, weil Ärztinnen nicht mehr praktizieren und männliche Ärzte keine Frauen anrühren dürfen. Wenn sie mit einem anderen Mann als ihrem eigenen Verkehr haben – und sei’s unter Zwang – werden sie gehenkt oder zu Tode gesteinigt; Homosexuelle werden lebendig begraben.

Entstammt dies meiner kranken Phantasie? Keineswegs. So war’s vor 15 Jahren unter den radikalmoslemischen Taliban bevor sie vor einem Jahrzehnt verjagt wurden. Jetzt bereiten sie sich – der Einsichten des Nordvietnamesen Giap eingedenk – geduldig darauf vor, nach dem Abzug der Amerikaner, der Briten, der Deutschen, Franzosen und der anderen NATO-Mitglieder ihr Terrorregime in Kabul wiederaufzunehmen. Nichts gibt zu der Annahme Anlass, dass sie milder vorgehen werden, wenn sich der Westen aus Afghanistan gestohlen hat und seine Truppen mit Sicherheit nicht zurückkommen werden.

Woher habe ich meine Kenntnisse? Sehen Sie, das ist faszinierend. Ich entnahm sie einem 15 Jahre alten Bericht auf der Webseite von „NOW“– der grössten amerikanischen Frauenorganisation, die sich damals noch um das Los ihrer Schwestern am Hindukusch sorgte, was heute ihr und anderen Feministenverbänden längst nicht mehr in den Sinn kommt. In ihrem abstossenden Narzissmus verschwenden sie keinen Gedanken auf die diabolischen  Perspektiven jener wehrlosen Geschöpfe. Auch sie haben den Wahlkampf vor Augen. Sie agitieren dafür, dass in Washington jene Partei an der Macht bleibt,  die nicht an ihrem „Recht“ rüttelt, ihre eigene Leibesfrucht zu töten, so wie dies seit der Freigabe der Abtreibung in den USA vor fast 40 Jahren 56 Millionen mal geschehen ist. Hier sei noch einmal der Leibhaftige erwähnt, und zwar mit einem Lutherwort: „Der Teufel ist aller Kinder Feind und sieht ungern, dass sie zur Welt kommen.“





Wenn der Platzregen aufhört

(Dieser Kommentar erschien 2011 in der Schweizer Monatszeitschrift Factum)

Von UWE SIEMON-NETTO

Im schrillen Talkshowpalaver, das in den USA augenscheinlich den seriösen Journalismus abgelöst hat, ist eine Floskel täglich zu hören. Sie lautet „American Exceptionalism“. Dieser Begriff fußt auf der These, dass sich die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer demokratischen Ideale Freiheit, Gleichheit und Individualismus von allen anderen Nationen qualitativ unterscheiden. Dieser Gedanke ist nicht neu; er wirkt aber heute besonders grotesk, weil er zumeist mit Seitenhieben gegen Europa, insbesondere Frankreich, geäußert wird. Kein Land sei so großmütig, hilfsbereit und opferwillig wie die USA, sagen die Kommentatoren, aber keines ernte soviel Undank. Kurz, Amerika sei herzensgut, während das „sozialistische“ Europa den Makel habe, dass es dort zu viele Europäer gebe. Mit dieser Abgeschmacktheit erntete ein Medienstar unlängst im Fox-Kabelfernsehen das vergnügte Prusten seiner Mitschwätzer.

Ich bin ein konservativer Europäer. Umso mehr empört es mich, dass vor allem die vorgeblich konservativen Gegner Barack Obamas, zu dessen Verehrern ich wahrlich nicht zähle, vor Millionen Fernsehzuschauern dyergestalt daherplappern, und mich erbost   insbesondere der selbstgerechte, pseudoreligiöse Unterton der Behauptung, dass Amerika „exzeptionell“ sei. Amerikas Sonderrolle wird wie eine Gottesgabe dargestellt. Niemand scheint diesen Leuten entgegenzuhalten, dass es biblisch gesehen nur ein auserwähltes Volk gibt, nämlich das jüdische; dass darüber hinaus jedes Land wie auch jedes Individuum spezifische göttliche Berufungen hat, von denen keine über der anderen rangiert; dass drittens die Erbsünde alle Menschen befallen hat.

Angesichts des pseudoreligiösen Charakters dieses Geredes erinnere ich an das Lutherwort vom „fahrenden Platzregen, der „nicht wieder dahin kommt, wo er einmal gewesen ist.“ Luther meinte damit plötzliche Segnung bestimmter geographischer Plätze -- zum Beispiel Deutschlands zur Reformationszeit -- mit Gottes Wort. Das gleiche gilt auch für den weltlichen Bereich. Gott vertraut Nationen besondere Aufgaben an. Aber wir wissen aus dem Alten Testament, dass Gott einer untreuen Nation auch seinen Rücken zuwenden kann.

Nur Toren können bestreiten, dass Amerika im Weltgeschehen zwar einen gewichtigen Auftrag hat aber derweil daheim vom Weg abgekommen ist. Vor den jüngsten Kongresswahlen war viel von Steuern die Rede, viel vom Schrumpfen des Wohlstandes der Amerikaner, viel auch von Arbeitslosigkeit, und dies waren legitime Themen. Aber erstaunlich wenig wurde darüber gesprochen, dass die Vereinigten Staaten die westliche Welt eben nicht nur vor Tyrannei schützten sondern auch in den Morast einer Massenperversion führten, die mit den Idealen von Freiheit und Gleichheit unvereinbar ist: Ich meine den Entzug  des Lebensrechtes ungeborener Kinder.

Seit der Oberste Gerichtshof 1973 die Abtreibung billigte, sind in diesem Land mindestens 70 Millionen Babys in Mutterleib umgebracht worden. Jährlich werden 1,2 Millionen mehr gemeuchelt. Die meisten anderen Demokratien sind diesem Beispiel Amerikas gefolgt und nicht umgekehrt, so wie sie die Leitmacht auch in ihren anderen Verirrungen nachäfften, sei es in der Glorifizierung des Drogenkonsums, sei es indem sie Homosexualität und Ehe zunehmend gleichsetzten und damit die Familie als Schöpfungsordnung in Frage stellten.

Dies alles verleiht dem "American Exceptionalism" einen düsteren Aspekt, denn es mutiert die demokratische Tugend des Individualismus zur Untugend der Ichsucht, und dies schlägt sich allenthalben in der wirtschaftlichen, geistigen, kulturellen und politischen Malaise der USA nieder.

Obama und sein Berater, vorwiegend Veteranen der linksradikalen Szene der Sechzigerjahre, treten vehement für das "Recht" werdender Mütter ein, zwischen Leben und Tod ihrer Leibesfrucht wählen zu dürfen. Der permanente Verstoß gegen das Lebensrecht Millionen Ungeborener war im letzten Wahlkampf aber bestenfalls ein Randthema. Und dies stellt die Verkünder des „American Exceptionalism“ in ein absurdes Licht. Denn es ist vermessen zu glauben, dass Gottes Platzregen auf die Dauer den von immer frischem Blut getränkten Boden fruchtbar halten wird -- in Amerika und anderswo. Um Luther zu paraphrasieren: Platzregen haben es an sich, weiterzufahren.

Wednesday, April 4, 2012

Press Ignores Routine Black Success Stories

From the April 5, 2012, edition of The Wall Street Journal

By UWE SIEMON-NETTO

Rick Nagel's response (Letters, March 31) to Juan Williams's "The Trayvon Martin Tragedies" provides a sad testimony of the current state of journalism. Why do we read and hear so little of those black "entrepreneurs, fund managers, attorneys, teachers" who once studied under Mr. Nagel and similar teachers?

As a former foreign correspondent covering this country for decades, I blame the dearth of curiosity and imagination among assignment editors and reporters for this. Rather than dig up exciting stories about such remarkable people, they perpetuate clichés by parading out opportunistic and boring characters such as the Rev. Al Sharpton and the Rev. Jesse Jackson, who should have long been relegated to dotage in obscurity.

You rarely find out much about competent pastors of healthy black congregations. When I lived in downtown Washington, I attended Mount Olivet Lutheran Church, an almost all-black parish a 10-minute walk from the offices of the capital's leading newspaper. Not once did Mount Olivet's elegant and Gospel-centered sermons, its fine liturgy and educated, successful members attract media attention. The problem was that they were too "normal"; they did not fit stereotypes as readily as Messrs. Sharpton or Jackson.

Is it good journalism to ignore what's excellent and normal? Trust an old newspaperman: It is not and does harm to all of us, especially African-Americans.

Uwe Siemon-Netto

Laguna Woods, Calif.

Monday, March 12, 2012

Santorum und Amerikas „geistlicher Krieg“

Uwe Siemon-Netto

„Was ist mit den Amis los?“ fragt der Titel eines Bestsellers von Christoph von Marschall, der aus Washington für den „Tagesspiegel“ berichtet. Das Buch soll Deutschen helfen, den US-Wahlkampf zu verstehen. Für den Ex-Senator und Außenpolitiker Rick Santorum, 53, der sich trotz finanzieller Widrigkeiten im Ringen um die republikanische Kandidatur fürs Präsidentenamt respektabel behauptet, ist die Antwort eindeutig: In Amerika sei der Teufel los; Satan habe das Land im Fadenkreuz. Diese Aussage macht Santorum bei den Vorwahlen seiner Partei zwar nicht zum Favoriten; er ist die Nummer zwei, während Mitt Romney führt. Aber beim Parteikonvent am 27. August in Tampa (Florida) muss dieser mindestens 1.144 Delegiertenstimmen auf sich vereinigen, um nominiert zu werden. Bis dahin ist der Weg weit.


Santorums gutes Abschneiden ist faszinierend, weil es die Gemütslage Amerikas dartut. Die Evangelikalen bevorzugen den Katholiken Santorum, aber nicht nur sie; nach Ansicht des lutherischen Theologen Robert Benne hat dieser Sohn eines Italieners nach wie vor Chancen, von seiner Partei nominiert zu werden. Denn das Unbehagen vieler Amerikaner, gerade aus der Arbeiter- und Mittelschicht, über den sittlichen Verfall der USA greift um sich. Mir sind die Worte eines braunhäutigen MRT-Technikers im Ohr, der mich, während das von ihm bediente Siemens-Gerät meine Frau untersuchte, bange fragte: „Wird Gott unserem Land den Rücken zuwenden, nachdem wir uns von ihm abgewandt haben?“


Im Hinterland ist diese Furcht immer öfter zu hören. Gewiss, laut Meinungsumfragen ist zur Zeit die Wirtschaft das erste Wahlkampfthema; aber ethische Faktoren spielen eine wichtige, wenngleich für Meinungsforscher manchmal schwer auszulotende, schattenhafte Rolle: Was sagt es über die USA aus, wenn immer mehr Fahnen auftauchen, die das hoch in Ehren gehaltene Sternenbanner mit Homo-Symbolik kombinieren? Auf welch’ abschüssiger Bahn sind wir gelandet, wenn schon acht der 50 Bundesstaaten Schwulenehen zulassen; wenn seit Obamas Amtsantritt Militärseelsorger gleichgeschlechtliche Paare trauen dürfen; wenn, wie in Kalifornien, ein Bundesgericht gar einen Volksentscheid wider solche Vermählungen als verfassungswidrig verwirft?


Santorums Popularität hängt auch damit zusammen, dass neuerdings eine Mehrheit das Recht von Frauen ablehnt, ihre Leibesfrucht töten zu lassen. Dies trifft namentlich auf jüngere Leute zu, seit sie dank Ultraschall sehen können, was im Mutterleib wächst, nämlich ein Mensch und kein bloßer Zellenklumpen. Furios versuchen deshalb Feministinnen in den US-Teilstaaten Gesetze zu unterbinden, die werdende Mütter zwingen sollen, sich dies vor dem Eingriff auf dem Bildschirm anzusehen.


Santorum, der dem ärztlichen Drängen widerstanden hatte, das jüngste seiner sieben Kinder wegen eines genetischen Defektes abtreiben zu lassen, wurde weltweit verhöhnt, als bekannt wurde, dass er vor vier Jahren in einem Referat an der Ave-Maria-Universität in Florida vom „Vater der Lügen“ gesprochen hatte. Satan beim Namen zu nennen gilt in aufgeklärten Kreisen als „mittelalterlich“, auch in Deutschland. „Spiegel-Online“ verspottete denn auch den „Jesus-Kandidaten“ Santorum als „bizarr“. Wenn aber ein Mensch „bizarr“ genannt wird, weil es ihm mulmig wird beim Gedanken an die 56 Millionen Unbescholtenen, die umgebracht wurden, seit der Oberste US-Gerichtshof 1973 die Abtreibung zugelassen hat, dann ist es an der Zeit, an die griechische Wurzel des deutschen Wortes Teufel zu erinnern: „diabolos“, der Durcheinanderwerfer.


In seinem Ave-Maria-Vortrag sprach Santorum von dem „geistlichen Krieg“, den Satan schon seit fast 200 Jahren gegen die großen Institutionen Amerikas führe, wobei Hochmut, Eitelkeit und Sinnlichkeit seine Waffen seien. Zuerst und am erfolgreichsten habe der Teufel das Hochschulwesen attackiert, weil es die Eliten ausbilde. „Nachdem es seinem eigenen Stolz und seinen falschen Wahrheiten erlegen war“, sagte er, sei der Protestantismus gefallen, der die US-Kultur geprägt habe. „Betrachten wir dem Zustand der Mainline-Kirchen (gemeint: der liberalen Volkskirchen), dann sehen wir, dass sie sich in ihrer Verwirrung aus dem Weltchristentum... verabschiedet haben.“


Besonders anschaulich lässt sich dieser Sachverhalt am Fall des Abtreibungsarztes Dr. George Tiller aus Wichita (Kansas) festmachen. Er hatte nach eigenem Bekennen 60.000 Föten getötet, die meisten im letzten Trimester der Schwangerschaft. Folgen wir Santorums Szenarium, war dies nur möglich, weil eben die Wissenschaft die im Naturrecht verankerten ethischen Werte in Frage gestellt hat, einschließlich des Wertes menschlichen Lebens. Tiller gehörte einer Gemeinde der konservativen lutherischen Missouri-Kirche an, trat aber aus, bevor sie ihn exkommunizierte. Er schloss sich der liberalen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika (ELCA) an, deren Prediger manchmal Abtreibungskliniken als „Gesundheitszentren für Frauen“ verniedlichen.


In seiner neuen ELCA-Gemeinde war „Tiller, the Killer“, so sein Spitzname, ob seiner Großzügigkeit hochwillkommen und durfte den Abendmahlskelch reichen. Vor drei Jahren erschoss ihn der Busfahrer Scott Roeder in der Kirche, woraufhin Tiller als Märtyrer geehrt wurde; der renommierte Bioethikprofessor Jacob Appel aus New York feierte ihn gar als einen „echten Helden im Pantheon der Verteidiger menschlicher Freiheiten, neben Martin Luther King.“ Die Öffentlichkeit im US-Staat Kansas nahm das Phänomen Tiller beklagenswert unkritisch hin, wie Fernsehmoderator Bill O’Reilly monierte. Auch die Politik war an diesem Vorgang schändlich beteiligt: Kathleen Sebelius, damals Gouverneurin von Kansas, war mit Tiller befreundet, deckte ihn und nahm dankbar seine Wahlkampfspenden entgegen.


Frau Sebelius ist Katholikin; ihr Bischof bat sie, in seiner Diözese fortan nicht mehr das Sakrament zu empfangen. Jetzt ist sie als Obamas Gesundheitsministerin in einen monumentalen Konflikt zwischen der Regierung und der mächtigen katholischen Kirche verwickelt. Washington will die Kirchen zwingen, in die Krankenversicherungsverträge für die Angestellten ihrer Krankenhäuser und Hochschulen auch empfängnisverhütende Mittel und die „Pille danach“ einzubeziehen. Die Kirche, einschließlich liberaler Katholiken, bäumt sich gegen diesen Eingriff in ihre Glaubenssätze auf; dies kann Obama im November schaden; mit 65 Millionen Mitgliedern ist sie die größte Konfession in den USA, und normalerweise stimmt eine Mehrheit unter ihnen demokratisch.


Santorum vermeidet zurzeit persönliche Angriffe auf Obama. Aber vor vier Jahren zeigte er in Florida die tiefe Schlucht zwischen sich selbst und dem damaligen Präsidentschaftskandidaten Obama auf, der 2001 als Abgeordneter im Oberhaus des Staates Illinois gegen eine Gesetzesvorlage stimmte, die das Lebensrecht eines Babys garantiert hätte, das den Versuch einer Spätabtreibung überlebte. Santorum zitierte damals ein Interview Obamas mit dem Kirchenredakteur der Zeitung „Chicago Sun-Times“. Es verlief so:


Frage: „Was ist Sünde?“


Obama: „Von meinen eigenen Werten abzuweichen.“


Mit anderen Worten: die eigenen Werte sind der Sündenmaßstab, und nicht die Unfähigkeit des Menschen, Gott zu vertrauen, kombiniert mit „böser Lust und Neigung“, wie die Augsburger Konfession die Erbsünde deutet. Santorums Kommentar: „Hier haben wir den ersten wahrhaft postmodernen Präsidentschaftskandidaten, der ausdrücklich seine eigene Realität definiert.“ Eines der Merkmale der Postmoderne ist, dass jeder nach seinem eigenen Belieben seine Wertskala bestimmen und ändern kann.


Santorum verteufelt wohlgemerkt Obama keineswegs. Als bekennender Christ identifiziert er lediglich den Frontverlauf im „geistlichen Krieg“ um Amerika. Ob Santorum im November gewinnen oder auch nur antreten wird, ist ebenso wenig ausgemacht wie die törichte Annahme mancher rechtsextremer Amerikaner, dass Obama der Wahrhaftige sei und zwangsläufig im postmodernen Denken verharren müsse. Aber wer Amerikas Drama verstehen will, muss sich erst einmal der Dimension des Kampfes vergewärtigen, der um seine Seele – und damit die Seele der westlichen Welt – ausgetragen wird. Hier ringt das christliche Amerika, zu dem Santorum sich bekennt, mit dem Vermächtnis des ersten Wortführers der ichbezogenen Postmoderne, Aleister Crowley (1875-1947), dessen Motto lautete: „Tue wonach dir der Sinn steht; dies allein ist das Gesetz“, und der sein Leben entsprechend gestaltete.


Crowley war Engländer, prägte aber düstersten Aspekte der heutigen amerikanischen Gesellschaft mit; die offiziell anerkannte „Kirche Satans“ beruft sich unter anderem auf ihn. Der britische Schriftsteller Somerset Maugham hielt ihn für den „bösesten Mann, dem ich je begegnet bin“, und der irische Poet W.B. Yeats nannte ihn den „König der Verderbtheit“.


Dr. Uwe Siemon-Netto ist Gründungsdirektor des Zentrums für lutherische Theologie und öffentliches Leben in Capistrano Beach, Kalifornien.