Monday, March 12, 2012

Santorum und Amerikas „geistlicher Krieg“

Uwe Siemon-Netto

„Was ist mit den Amis los?“ fragt der Titel eines Bestsellers von Christoph von Marschall, der aus Washington für den „Tagesspiegel“ berichtet. Das Buch soll Deutschen helfen, den US-Wahlkampf zu verstehen. Für den Ex-Senator und Außenpolitiker Rick Santorum, 53, der sich trotz finanzieller Widrigkeiten im Ringen um die republikanische Kandidatur fürs Präsidentenamt respektabel behauptet, ist die Antwort eindeutig: In Amerika sei der Teufel los; Satan habe das Land im Fadenkreuz. Diese Aussage macht Santorum bei den Vorwahlen seiner Partei zwar nicht zum Favoriten; er ist die Nummer zwei, während Mitt Romney führt. Aber beim Parteikonvent am 27. August in Tampa (Florida) muss dieser mindestens 1.144 Delegiertenstimmen auf sich vereinigen, um nominiert zu werden. Bis dahin ist der Weg weit.


Santorums gutes Abschneiden ist faszinierend, weil es die Gemütslage Amerikas dartut. Die Evangelikalen bevorzugen den Katholiken Santorum, aber nicht nur sie; nach Ansicht des lutherischen Theologen Robert Benne hat dieser Sohn eines Italieners nach wie vor Chancen, von seiner Partei nominiert zu werden. Denn das Unbehagen vieler Amerikaner, gerade aus der Arbeiter- und Mittelschicht, über den sittlichen Verfall der USA greift um sich. Mir sind die Worte eines braunhäutigen MRT-Technikers im Ohr, der mich, während das von ihm bediente Siemens-Gerät meine Frau untersuchte, bange fragte: „Wird Gott unserem Land den Rücken zuwenden, nachdem wir uns von ihm abgewandt haben?“


Im Hinterland ist diese Furcht immer öfter zu hören. Gewiss, laut Meinungsumfragen ist zur Zeit die Wirtschaft das erste Wahlkampfthema; aber ethische Faktoren spielen eine wichtige, wenngleich für Meinungsforscher manchmal schwer auszulotende, schattenhafte Rolle: Was sagt es über die USA aus, wenn immer mehr Fahnen auftauchen, die das hoch in Ehren gehaltene Sternenbanner mit Homo-Symbolik kombinieren? Auf welch’ abschüssiger Bahn sind wir gelandet, wenn schon acht der 50 Bundesstaaten Schwulenehen zulassen; wenn seit Obamas Amtsantritt Militärseelsorger gleichgeschlechtliche Paare trauen dürfen; wenn, wie in Kalifornien, ein Bundesgericht gar einen Volksentscheid wider solche Vermählungen als verfassungswidrig verwirft?


Santorums Popularität hängt auch damit zusammen, dass neuerdings eine Mehrheit das Recht von Frauen ablehnt, ihre Leibesfrucht töten zu lassen. Dies trifft namentlich auf jüngere Leute zu, seit sie dank Ultraschall sehen können, was im Mutterleib wächst, nämlich ein Mensch und kein bloßer Zellenklumpen. Furios versuchen deshalb Feministinnen in den US-Teilstaaten Gesetze zu unterbinden, die werdende Mütter zwingen sollen, sich dies vor dem Eingriff auf dem Bildschirm anzusehen.


Santorum, der dem ärztlichen Drängen widerstanden hatte, das jüngste seiner sieben Kinder wegen eines genetischen Defektes abtreiben zu lassen, wurde weltweit verhöhnt, als bekannt wurde, dass er vor vier Jahren in einem Referat an der Ave-Maria-Universität in Florida vom „Vater der Lügen“ gesprochen hatte. Satan beim Namen zu nennen gilt in aufgeklärten Kreisen als „mittelalterlich“, auch in Deutschland. „Spiegel-Online“ verspottete denn auch den „Jesus-Kandidaten“ Santorum als „bizarr“. Wenn aber ein Mensch „bizarr“ genannt wird, weil es ihm mulmig wird beim Gedanken an die 56 Millionen Unbescholtenen, die umgebracht wurden, seit der Oberste US-Gerichtshof 1973 die Abtreibung zugelassen hat, dann ist es an der Zeit, an die griechische Wurzel des deutschen Wortes Teufel zu erinnern: „diabolos“, der Durcheinanderwerfer.


In seinem Ave-Maria-Vortrag sprach Santorum von dem „geistlichen Krieg“, den Satan schon seit fast 200 Jahren gegen die großen Institutionen Amerikas führe, wobei Hochmut, Eitelkeit und Sinnlichkeit seine Waffen seien. Zuerst und am erfolgreichsten habe der Teufel das Hochschulwesen attackiert, weil es die Eliten ausbilde. „Nachdem es seinem eigenen Stolz und seinen falschen Wahrheiten erlegen war“, sagte er, sei der Protestantismus gefallen, der die US-Kultur geprägt habe. „Betrachten wir dem Zustand der Mainline-Kirchen (gemeint: der liberalen Volkskirchen), dann sehen wir, dass sie sich in ihrer Verwirrung aus dem Weltchristentum... verabschiedet haben.“


Besonders anschaulich lässt sich dieser Sachverhalt am Fall des Abtreibungsarztes Dr. George Tiller aus Wichita (Kansas) festmachen. Er hatte nach eigenem Bekennen 60.000 Föten getötet, die meisten im letzten Trimester der Schwangerschaft. Folgen wir Santorums Szenarium, war dies nur möglich, weil eben die Wissenschaft die im Naturrecht verankerten ethischen Werte in Frage gestellt hat, einschließlich des Wertes menschlichen Lebens. Tiller gehörte einer Gemeinde der konservativen lutherischen Missouri-Kirche an, trat aber aus, bevor sie ihn exkommunizierte. Er schloss sich der liberalen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika (ELCA) an, deren Prediger manchmal Abtreibungskliniken als „Gesundheitszentren für Frauen“ verniedlichen.


In seiner neuen ELCA-Gemeinde war „Tiller, the Killer“, so sein Spitzname, ob seiner Großzügigkeit hochwillkommen und durfte den Abendmahlskelch reichen. Vor drei Jahren erschoss ihn der Busfahrer Scott Roeder in der Kirche, woraufhin Tiller als Märtyrer geehrt wurde; der renommierte Bioethikprofessor Jacob Appel aus New York feierte ihn gar als einen „echten Helden im Pantheon der Verteidiger menschlicher Freiheiten, neben Martin Luther King.“ Die Öffentlichkeit im US-Staat Kansas nahm das Phänomen Tiller beklagenswert unkritisch hin, wie Fernsehmoderator Bill O’Reilly monierte. Auch die Politik war an diesem Vorgang schändlich beteiligt: Kathleen Sebelius, damals Gouverneurin von Kansas, war mit Tiller befreundet, deckte ihn und nahm dankbar seine Wahlkampfspenden entgegen.


Frau Sebelius ist Katholikin; ihr Bischof bat sie, in seiner Diözese fortan nicht mehr das Sakrament zu empfangen. Jetzt ist sie als Obamas Gesundheitsministerin in einen monumentalen Konflikt zwischen der Regierung und der mächtigen katholischen Kirche verwickelt. Washington will die Kirchen zwingen, in die Krankenversicherungsverträge für die Angestellten ihrer Krankenhäuser und Hochschulen auch empfängnisverhütende Mittel und die „Pille danach“ einzubeziehen. Die Kirche, einschließlich liberaler Katholiken, bäumt sich gegen diesen Eingriff in ihre Glaubenssätze auf; dies kann Obama im November schaden; mit 65 Millionen Mitgliedern ist sie die größte Konfession in den USA, und normalerweise stimmt eine Mehrheit unter ihnen demokratisch.


Santorum vermeidet zurzeit persönliche Angriffe auf Obama. Aber vor vier Jahren zeigte er in Florida die tiefe Schlucht zwischen sich selbst und dem damaligen Präsidentschaftskandidaten Obama auf, der 2001 als Abgeordneter im Oberhaus des Staates Illinois gegen eine Gesetzesvorlage stimmte, die das Lebensrecht eines Babys garantiert hätte, das den Versuch einer Spätabtreibung überlebte. Santorum zitierte damals ein Interview Obamas mit dem Kirchenredakteur der Zeitung „Chicago Sun-Times“. Es verlief so:


Frage: „Was ist Sünde?“


Obama: „Von meinen eigenen Werten abzuweichen.“


Mit anderen Worten: die eigenen Werte sind der Sündenmaßstab, und nicht die Unfähigkeit des Menschen, Gott zu vertrauen, kombiniert mit „böser Lust und Neigung“, wie die Augsburger Konfession die Erbsünde deutet. Santorums Kommentar: „Hier haben wir den ersten wahrhaft postmodernen Präsidentschaftskandidaten, der ausdrücklich seine eigene Realität definiert.“ Eines der Merkmale der Postmoderne ist, dass jeder nach seinem eigenen Belieben seine Wertskala bestimmen und ändern kann.


Santorum verteufelt wohlgemerkt Obama keineswegs. Als bekennender Christ identifiziert er lediglich den Frontverlauf im „geistlichen Krieg“ um Amerika. Ob Santorum im November gewinnen oder auch nur antreten wird, ist ebenso wenig ausgemacht wie die törichte Annahme mancher rechtsextremer Amerikaner, dass Obama der Wahrhaftige sei und zwangsläufig im postmodernen Denken verharren müsse. Aber wer Amerikas Drama verstehen will, muss sich erst einmal der Dimension des Kampfes vergewärtigen, der um seine Seele – und damit die Seele der westlichen Welt – ausgetragen wird. Hier ringt das christliche Amerika, zu dem Santorum sich bekennt, mit dem Vermächtnis des ersten Wortführers der ichbezogenen Postmoderne, Aleister Crowley (1875-1947), dessen Motto lautete: „Tue wonach dir der Sinn steht; dies allein ist das Gesetz“, und der sein Leben entsprechend gestaltete.


Crowley war Engländer, prägte aber düstersten Aspekte der heutigen amerikanischen Gesellschaft mit; die offiziell anerkannte „Kirche Satans“ beruft sich unter anderem auf ihn. Der britische Schriftsteller Somerset Maugham hielt ihn für den „bösesten Mann, dem ich je begegnet bin“, und der irische Poet W.B. Yeats nannte ihn den „König der Verderbtheit“.


Dr. Uwe Siemon-Netto ist Gründungsdirektor des Zentrums für lutherische Theologie und öffentliches Leben in Capistrano Beach, Kalifornien.

Causa Wulff: Unfassliche Inhumanität

von UWE SIEMON-NETTO

Jetzt, da Christian Wulff mit Großem Zapfenstreich aus seinem Amt verabschiedet wurde, ist ein Nachwort fällig. Ich habe diese Affäre aus der Ferne verfolgt und bekam eine Gänsehaut ob der unfasslichen Inhumanität meiner Landsleute und ihrer Kirchenführer gegen einen Mitmenschen. Herr Wulff ist kein Verbrecher; es gab weder eine Anklage, noch eine Beweisaufnahme noch ein Urteil gegen ihn. Gleichwohl traten die Medien, einschließlich leider der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, eine Hasslawine gegen ihn los, die in der Geschichte dieser Republik kein Beispiel hat.

Ich begreife nicht, wieso sich die FAZ ohne Not an die Spitze eines Lynchmobs gesetzt hat. Wulff wurde zum nationalen Unhold gemacht. Wo werden er und seine Familie fortan noch in unserem Lande ihr Gesicht zeigen können? Was haben seine Kinder jetzt an der Schule auszustehen? Der hämische Pöbel, der sich heute in Zeitungsblogs artikuliert, erinnert mich an die Tricoteusen rund um die Guillotine der französischen Revolution -- und an Schlimmeres. Bedenklicher als Wulffs vielleicht fragwürdige Ethik ist der Unrat, der sich hier von der Volksseele entlud.

Dass sich gleich mehrere FAZ-Ressorts an dieser Hatz beteiligten, stellt ihr Verhalten keineswegs in ein edleres Licht. Im Gegenteil: Hier wurde im Gleichschritt marschiert -- im Gleichschritt miteinander und mit BILD, das früher einmal ein amüsanter Jahrmarkt war, jetzt aber zu einem Koloss mit enormer Machthybris mutiert ist.

Strafverschärfend kam hinzu, dass sich dies alles auf Souterrain-Niveau vollzog; nie werde ich den unappetitlichen Hinweis der Fernseh-Moderatorin Bettina Schausten auf ihre Gästematratze vergessen. Wir erinnern uns: Sie fragte Wulff vor laufender Kamera, wieso er nicht seiner Gastgeberin -- wo war's, in Florida? -- 150 Euro zugesteckt habe. Spätestens an diesem Punkt hätten sich die FAZ-Verantwortlichen sagen müssen: "In dieser Allianz haben wir nichts zu suchen." In zivilisierten Kreisen ist ein Gast genau das, was dieses Wort besagt: ein Gast. Ein solcher gibt der Hausherrin kein Trinkgeld, bringt aber vielleicht eine Kiste Wein oder ein anderes Geschenk mit; derlei Aufmerksamkeiten scheinen im verproleteten Berlin nicht geläufig zu sein,

Als Journalist mit 55 Berufsjahren schäme ich mich meiner Zunft. Wenn sie aber tatsächlich das neue Antlitz der Deutschen präzise porträtiert hat und das übermittelte Hasspotential der Realität entspricht, dann: Kyrie eleison!