Friday, June 8, 2012

Des Menschen Faust in Gottes Gesicht

Der amerikanische Wendepunkt

(Aus "Factum" Juni 2012)

 Von UWE SIEMON-NETTO

Vor Jahrzehnten erfand mein Doktorvater Peter L. Berger eine launige Formel, die geistliche Lage Amerikas zu beschreiben. Berger, der führende Religionssoziologe in den USA, ist ein gebürtiger Wiener mit einem Faible für die Ironie des österreichischen Schriftstellers Robert Musil (1880-1942), dessen unvollendetes Buch „Der Mann ohne Eigenschaften“ zu den einflussreichsten Romanen des 20. Jahrhunderts zählt. Bergers Aphorismus hört sich so an: „Die frömmsten Menschen der Welt sind die Inder; die am wenigsten frommen sind die Schweden. So gesehen, sind die Amerikaner ein Volk von Indern, das von Schweden beherrscht wird.“

Ich habe in meinen Studienjahren in Boston oft über Bergers Apercu gelacht, weil es, wie jede gute Karikatur, der Wahrheit sehr nahe kam. Heute befürchte ich, dass das nicht mehr ganz zutrifft. Die USA hatten in ihrer 236-jährigen Geschichte etliche Präsidenten, deren Glauben von der christlichen Orthodoxie abwich; so waren die ersten drei Deisten, also Leute, die zwar den göttlichen Ursprung des Universums anerkannten, das weitere Eingreifen Gottes in die Geschichte jedoch bestritten. Aber sie stellten sich nicht mitten im Wahlkampf aufs Podium und erklärten dem tumben Volk: „Ich bin aufgeklärt und ihr seid es nicht.“

Barack Obama dürfte, um bei Bergers Bonmot zu bleiben, der erste „Schwede“ sein, der dergestalt herablassend zu seinen „Indern“ sprach.  In einem Fernsehinterview gab er bekannt, dass er nunmehr das Recht gleichgeschlechtlicher Paare unterstütze, sich amtlich trauen zu lassen; vor vier Jahren hatte er genau dies verneint. War dies nun – sechs Monate vor der Wahl – tollkühn? War es, wie konservative Kommentatoren meinen, der Verzweiflungsakt eines Staatsmannes, der sich keiner wirtschaftlichen und aussenpolitischen Erfolge brüsten kann und folglich eine Koalition der Minderheiten zusammenbastelt – der Linksliberalen, der harten Linken, der Schwarzen, der Latinos, der Homo-, Bi- und Transsexuellen, der Feministinnen, zumal solcher, die furios für das „Recht“ der Frau eintreten, ihre Leibesfrucht zu liquidieren?

Oder haben Obama und seine Berater sich überzeugt, dass die meisten Amerikaner von „Indern“ zu „Schweden“ mutiert sind. Die spannende Frage ist, ob Amerikaner infolgedessen  nicht mehr dadurch verprellt werden können, dass ihr Präsident ein „säkulares, postchristliches, homosexuelles Amerika anstrebt“, wie mein Kollege Jeffrey T. Kuhner dies in der Internetpublikation „World Tribune“ formulierte. Steuert er deshalb sein Land ausgerechnet jetzt einem kulturellen Wendepunkt entgegen?

Obama „streckt seine Faust in Gottes Gesicht“, kommentierte Franklin Graham, Billy Grahams Sohn, diesen Vorgang, der deshalb so Angst erregend ist, weil er viel weiter reichende Konsequenzen hat als jedes modische Bekenntnis zur „Toleranz“. Hier geht es ja nicht um staatliche Hochherzigkeit in Fällen bibelwidrigen Sexualverhaltens. Hier ist nicht die Rede von einer Feld-Wald-und-Wiesen-Sünde, von der uns dank Gottes Gnade der Glaube an Christi Sühnetod am Kreuz erlöst. Hier verkündet der höchste Mann im Staate eben nicht nur seine Neutralität gegenüber biblischen Gesetzen wie dem 6. Gebot oder auch dem Verbot der Sodomie.

Nein, dies ist viel dramatischer: Hier empört sich die Obrigkeit der Grossmacht Amerika wider die verborgene Herrschaft Gottes im weltlichen Reich. Hier erleben wir den Versuch einer Usurpation seiner Souveränität. Obama vergreift sich an den Parametern, die Gott den Herrschern für ihr Amt gesetzt hat, damit die Welt nicht aus dem Ruder läuft. Denn nach christlichem Verständnis ist die Ehe zwischen Mann und Frau der Baustein der Familie, und die Familie ist wie der Staat und die Wirtschaft, eine Schöpfungsordnung, ein Bollwerk gegen das Chaos, das Tohuwabohu. Dies lässt sich auch nichtchristlich formulieren: Um im November nicht abgewählt zu werden, tritt Obama in Angst erregender Weise an die Spitze jener Kräfte, die das Naturrecht ausser Kraft setzen wollen.

Amerikas bisherige „indische“ Mehrheit machte sich über diese Absicht von „Schweden“ wie Obama keine Illusionen. Deshalb verabschiedeten 31 der 50 Bundesstaaten Gesetze, in denen die Ehe ausschliesslich als der Bund zwischen einem Mann und einer Frau definiert wurden. So steht es auch in einem Bundesgesetz, das die Schwulenlobby, auf deren Seite sich augenscheinlich jetzt auch der Präsident geschlagen hat, zu kippen trachtet.

Wieso scheut sich Obama also nicht mehr, seine „Inder“ vor den Kopf zu stoßen? Ganz einfach: weil sie nicht mehr die Mehrheit sind. Nach jüngsten Umfragen befürworten bereits 51 Prozent der Amerikaner das Heiratsrecht für Homosexuelle, und Demoskopen haben ermittelt, dass sich diese Werteerosion fortsetzen wird. Dies ist das Ergebnis eines faszinierenden Indoktrinationsgeschichte, die ich seit 50 Jahren verfolge: Nach der Faustregel „steter Tropfen höhlt den Stein“ bearbeitet die Lobby der Homosexuellen, die höchstens vier Prozent des Volkes ausmachen, mit einer geschickten Strategie die öffentliche Meinung.

Das begann damit, dass sie sich, wie auch die Feministinnen, an die schwarzen Bürgerrechtler anhängte, bis sich in immer mehr Köpfen die Analogie durchsetzte: Es war unrecht, Afro-Amerikaner zu benachteiligen, also ist es auch falsch, gegen eine sexuelle Minderheit zu diskriminieren. Die Differenz zwischen Pigmentunterschieden und abartiger Fleischeslust zu sehen, setzt die Fähigkeit zu kritischem Denken voraus. Diese Fähigkeit ist aber abhanden gekommen, wie jeder bezeugen kann, der einmal im öffentlichen Schul- und Hochschulwesen der USA gelehrt hat.

 Die „schwedischen“ Autoren der Postmoderne haben dafür gesorgt, dass auch die vormaligen „Inder“ zunehmend meinen, ein jeder könne sich seine eigene Wertewelt selbst zurechtzimmern. Ein befreundeter Professor einer methodistischen Universität berichtete mir einmal voller Schrecken, dass seine Studenten ausnahmslos meinten, man dürfe Hitler doch nicht verdammen, weil er ja „aus seiner eigenen Sicht, wenn nicht aus unserer, Recht gehabt haben mag“.

So kam es, dass in Amerika heute „Schweden“ über immer mehr „Schweden“ herrschen, während die frommen „Inder“ im Rückzug sind. Ob dies schon so weit vorangeschritten ist, dass es Obamas Wahlchancen steigert oder zumindest nicht mindert, wird sich im November zeigen. Aber dass sich hier der Marsch einer Weltmacht ins Tohuwabohu abzeichnet, muss uns nachdenklich stimmen, obwohl gleichgeschlechtliche Ehen in Teilen unseres Kontinents längst üblich sind.

Stockholm hat gar eine lesbische Bischöfin, Eva Brunne heisst sie.  Frau Brunne lebt mit einer anderen Priesterin in einer kirchlich gesegneten Partnerschaft. Die lutherische Kirche von Schweden befürwortet homosexuelle Ehen. Aber Schweden ist um viele Nummern kleiner als die USA und hatte nie eine „indische“ Mehrheit, um bei Bergers Bild zu bleiben. Zwar macht dies die skandinavische Verirrung nicht weniger schandbar, nur dürfte der Schaden geringer sein. Schwedischer Aberwitz wird nicht automatisch nachgeahmt, amerikanischer Wahnsinn aber sehr wohl. Und genau hier liegt das Problem, das Obama jetzt zu einem neuen Höhepunkt gebracht hat.

Es war Amerika, das 1973 die globale Abtreibungslawine losgetreten hatte, die nunmehr in der ganzen westlichen Welt jedes Jahr Millionen ungeborener Kinder  den Tod bringt. Es war Amerika, das für die Homosexualität und sogar den Sadomasochismus auch in den Kirchen die Tür aufgestossen hat. Jetzt nehmen sich deutsche evangelische Landeskirchen daran ein Beispiel und gestatten gleichgeschlechtlichen Paaren den Einzug ins Pfarrhaus.

Ich liebe Amerika, mit dem ich seit einem halben Jahrhundert eng verbunden bin, aber ich sehe auch den ethischen Unrat, mit dem es die Welt überschwemmt. Allzu gern mokieren sich Christen in meiner amerikanischen Wahlheimat über die angeblich verheidete Alte Welt. Aber jetzt befürchte ich, dass eben deren Zustand, nennen wir ihn das „allgemeine Schwedentum“, unaufhaltsam über den Atlantik zurückschwappen wird.

Ich stamme aus Sachsen, der Wiege der Reformation, einem Teil der ehemaligen DDR. Nach einer Studie der Universität von Chicago glauben in diesem Gebiet, Luthers Heimat, nur noch 13 Prozent der Menschen an Gott. Dieses Schreckensergebnis ist heute schlimmer als vor der deutschen Wiedervereinigung. Aber treibt dies die Landeskirchen zu einer gründlichen Mission in ihren eigenen Territorien an? Halten Sie sich an Jesu Befehl: „Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes”(Matthäus 28,19)?

Nein, das nun wirklich nicht. Dabei kann ich mir kaum ein wichtigeres Missionsfeld vorstellen als dieses Land, dessen Kinder oft ohne irgendwelche Werte aufwachsen, ein Land darüber hinaus voller muslimischer Einwanderer und Flüchtlinge, unter denen nur wenige vereinzelte Pfarrer und die Freikirchen evangelisieren, nicht aber die Landeskirchen, die befürchten, dass derlei Aktivitäten ihren verquasten „interreligiösen Dialogen“ in den Weg kommen könnten. Statt Seelen zu retten, kaprizieren sie sich auf den aus Amerika importierten Tick, die göttliche Schöpfungsordnung selbst im Pfarrhaus unterwandern zu lassen.

Welcher Irrsinn wird Europas Gottesdiener erst befallen, wenn die amerikanischen Wähler im November nicht Obamas Faust aus Gottes Gesicht ziehen? Wir Europäer haben inzwischen gelernt, dass es keine amerikanische Abscheulichkeit gibt, die bei uns nicht nachgeäfft würde. Wenn ein chaotische Endsieg der amerikanischen „Schweden“ über die amerikanischen „Inder“ dazugehören sollte, dann lasst uns jetzt schon das „Kyrie eleison“ einüben!











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