Thursday, February 6, 2014

Duc, der Deutsche


 Uwe's Vietnam-Memoiren
ab Februar 2014 in den
Buchhandlungen

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Über den Vietnam-Krieg wurden in den letzten 40 Jahren tausende von Büchern geschrieben. Uwe Siemon-Nettos Memoirenband „Duc, der Deutsche“ unterscheidet sich von den anderen: Er ist eine Liebeserklärung an das  südvietnamesische Volk. Siemon-Netto berichtete fünf Jahre lang als Reporter über diese geschundenen Menschen, die ihm den Spitznamen Duc (der Deutsche) verliehen. Jetzt schildert er sie voller Humor und Leidenschaft. Er zeichnet die Schicksale von Waisenkindern nach, von denen einige nachts in seinem Citroen, andere unter den Bäuchen von Wasserbüffeln Obdach fanden. Er stellt uns einen Soldaten vor, der mit seinem Kanarienvogel ins Gefecht zieht – seiner einzigen Habe, nachdem die Vietcong seine Eltern ermordet und ihr Haus niedergebrannt hatten. Er erzählt Liebes- und Leidensgeschichten, preist die Schönheit der vietnamesischen Frauen und ihre zähe Natur. Er beschreibt eine grausige Nacht in einem Dschungeldorf, dessen Bürgermeisterfamilie – Vater, Mutter, zwölf Kinder – von Partisanen zu Tode gefoltert wurden. Und er führt uns zu den Massengräbern von Hué, in denen er die Leichen hunderter von Frauen und Kinder sah – allesamt Opfer der kommunistischen „Befreier“. Siemon-Netto sagt unerschrocken, dass die falsche Seite gesiegt habe, und wirft mit Blick auf Afghanistan eine quälende Frage auf: Hatte der nordvietnamesische Chefstratege Vo Nguyen Giap Recht als er voraus sagte, dass westliche Demokratien politisch und psychologisch unfähig seien, einen langen Guerillakrieg zu einem siegreichen Ende zu bringen.

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Prolog
Duc oder der Triumph des Absurden

                        Vor vierzig Jahren triumphierte in Südvietnam ein Absurdum. Am 30. April  1975 siegten in diesem gequälten Land die Falschen. Die Kommunisten siegten nicht, weil sie dies moralisch verdient hätten. Sie bezwangen das Volk mit Terror, Folter, Massenmord – völkerrechtswidrigen Mitteln, die sie mit eiskaltem Kalkül strategisch einsetzten, während an den Universitäten und in den Innenstädten der USA und Westeuropas die Jugend ihnen zujubelte. Sie gewannen die Oberhand, obwohl sie militärisch längst geschlagen waren. Warum? Der nordvietnamesische Verteidigungsminister Vo Nguyen Giap hatte es prophezeit: „Der Feind (gemeint: das freiheitliche System des Westens) hat psychologisch und politisch nicht das Zeug, einen ausgedehnten Krieg zu führen.“ Adelbert Weinstein, der brillante Militärfachmann der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, fasste in seinem Leitartikel zum Fall von Saigon den Grund für den Sieg dieser totalitären Macht in einem elegischen Satz zusammen: „Amerika konnte nicht warten.“
                        Das Giap-Zitat und das Adjektiv „absurd“ werden in diesem Buch immer wieder auftauchen. Sie sind der rote Faden, mit dem ich meine Leser an den Hauptgrund erinnern möchte, aus dem ich nach vier Jahrzehnten meine Memoiren aus meinen fünf Vietnam-Jahren niederschrieb. Ich hoffe, dass dies auch dann durchschimmert, wenn ich nach Reporterart Schmonzetten, Anekdoten, erotische Episoden und Abenteuergeschichten zu einem literarischen Potpourri verarbeite, und dies wiederum, weil ich damit das andere zentrale Thema dieses Bandes untermauern will: Hier handelt es sich um meine Liebeserklärung an das verwundete und verratene vietnamesische Volk, dem in den meisten anderen Büchern über diesen Konflikt absurderweise (!) ein untergeordneter Platz zugewiesen wurde.
                        Ich werde die zweite Auflage der amerikanischen Ausgabe meines Buches in Triumph of the Absurd umbenennen, also Triumph des Absurden. In dieser Ausgabe tue ich das nicht, weil Duc, der Deutsche eine schöne Alliteration ist, an der ich als ehemaliger Zeilenschmied – so nennt man in Zeitungsredaktionen einen Überschriftenmacher – meine Freude habe. Das Wort Duc hat aber einen mehrfachen Bezug: Erstens bedeutet es „der Deutsche“. Zweitens war es der Spitzname, den mir meine vietnamesischen Freunde gaben. Drittens hießen zwei meiner Protagonisten Duc: ein jugendlicher Büffelhirte, den wir später kennenlernen werden, und ein Saigoner Zeitungsjunge, von dem in diesem Prolog die Rede sein soll.
                        Dieser Duc war ein „Griewatsch“, wie wir Leipziger früher einen Lausejungen nannten. Er war dünn wie ein Bambusrohr, in mindestens drei Sprachen schlagfertig und augenscheinlich stets bester Laune. Sagte ich Lausejunge? Er war mehr. Duc war ein Ober-Griewatsch, der Häuptling einer Schar obdachloser Kinder, die tagsüber auf dem Trottoir vor meinem Hotel in Saigon zu überleben versuchten. Duc und ich wurden im Januar 1965 Freunde. Damals ließ die Tu-Do-Straße, früher Rue Catinat genannt, noch Spuren ihres früheren Charmes aus der französischen Kolonialzeit erkennen. Noch spendeten buschige, hellgrüne Tamarindenbäume den Passanten Schatten; bald würden diese Sauerdatteln den Abgasen der Zweitaktmotore vieler zehntausend Mopeds zum Opfer fallen. Auch mein betagter Citroen 15 CV trug zu ihrem langsamen Ableben bei. Mein Auto war ein Vorkriegsmodell der Traction Avant, des legendären Gangsterwagens, den wir aus französischen Kriminalfilmen kennen. Es war eine Tonne Eleganz auf Rädern, jedoch ungemein durstig.  Dreißig Liter Benzin pro 100 Kilometer schluckte dieser schöne Koloss, das heißt, sofern er überhaupt Treibstoff im Tank hatte. Hin und wieder hatte er ein Leck, das mein Mechaniker binnen Sekunden notdürftig reparierte, indem er ein Stück Kaugummi aus dem Innern seiner linken Wange erntete und auf das Loch pappte.
Wie wir gleich sehen werden, war meine Freundschaft mit Duc mit meinem Faible für dieses Auto verwoben, das in Wahrheit gar nicht mir gehörte. Ich hatte es langfristig von Ariane gemietet, der Saigoner Konzessionärin eines weltweiten Leihwagenkonzerns. Ariane war eine anmutige Französin, über die ich später erfuhr, dass sie zugleich mehrere westeuropäische Geheimdienste in diverser Weise be diente, darunter den BND. Ich war sehr wohl ins Grübeln gekommen, als sie verstohlen die Notizen und Manuskripte auf meinem Schreibtisch durchstöberte, wenn sie mich, wie an vielen späten Nachmittagen, zusammen mit anderen Freunden, zum Dämmerschoppen in meiner Suite 214 im Hotel „Continental Palace“ aufsuchte. Und da hatte ich mir nun eingebildet, dass sie wegen meiner damals noch fettfreien Figur, meines dichten blonden Haars und meines teutonischen Charmes gekommen wäre, vielleicht auch wegen meiner Martini-Cocktails aus Tanqueray-Gin und einem Tropfen trockenen Wermuts, wie ich sie in New York zu mixen gelernt hatte.
Nie hatte Ariane mir gesagt, dass sie Deutsch konnte. Wieso starrte sie dann also täglich auf Texte, die ihr scheinbar unverständlich waren? Nun weiß ich’s: Meine liebreizende Ariane war ein weiblicher Schlapphut, wie mir der Resident des niederländischen Geheimdienstes anvertraute, ein Mann, der höchstwahrscheinlich auch zu ihren Galanen zählte wie viele seiner Kollegen. Aber das war mir gleichgültig: Ich liebte ihr Auto, und sie liebte meine Martini-Cocktails, die sie mit Grazie herumreichte; dass sie in meinen Artikeln schnüffelte, störte mich nicht; ich hatte sie ja schließlich für die Öffentlichkeit geschrieben.
Meine Gedanken wandern; kehren wir zu Duc zurück. Er war ein lustiger Bursche mit einem Schalk im Nacken, ganz so wie ich es in seinem Alter war, als ich in Leipzig aus Wanzengas, Unkraut-Ex, einem Reichspfennig und einem Briefumschlag harmlose Sprengkörper bastelte und diese in der Bayerischen Straße auf die Gleise der Straßenbahnlinie 16 legte, die von Wiederitzsch zur Märchenwiese fuhr. Wenn sie detonierten, flogen die Pappscheiben aus der bombenlädierten Tram, und die Fahrgäste blickten angstvoll auf die vorbeiziehenden, immer noch qualmenden Häuserruinen: Schon wieder ein Luftangriff? Ich machte mich aus dem Staub. So garstig waren wir großstädtischen Griewatsche im Zweiten Weltkrieg; so garstig war Duc nicht.
Nein, Duc war ein Schelm mit Verantwortungsbewusstsein. Er sorgte sich um das Wohlergehen seiner Anvertrauten, der viel jüngeren kleinen Waisenkinder, die auf den Bürgersteigen und in den Hauseingängen der Tu-Do-Straße zwischen dem Boulevard Le Loi und der Le-Thanh-Ton-Straße lebten und in den Diensten einer rundliche Frau mittleren Alters standen; wir nannten sie Mamasan. Sie residierte vor dem Café La Pagode, dessen Feingebäck weit über Saigon hinaus legendär war. In La Pagode traf sich die schnatternde  Jeunesse Dorée des vorkommunistischen Saigons und hatte beim Genuss der Confiserien immer die mütterliche Mamasan im Blick. Sie war in diesem Häuserblock der südvietnamesischen Hauptstadt die Pressezarin. Mamasan hockte, umgeben von Zeitungsstapeln, auf dem Bürgersteig. Da waren drei englischsprachige Lokalblätter, zwei französische, etliche chinesische und weiß der Himmel wie viele vietnamesische; die Vietnamesen sind passionierte Leser. Mamasan verteilte die Zeitungen an Ducund seine Obdachlosenschar und an ähnliche Gruppen aus anderen Straßenzügen.
Duc war augenscheinlich Mamasans wichtigster Satrap. Sein Revier erstreckte sich über den renommiertesten Straßenzug Saigons, von La Pagode bis zum Restaurant Givral, dessen chinesische Nudelsuppe und französische Zwiebelsuppe Feinschmecker in ganz Südostasien priesen.  Dazwischen lag die luxuriöse Einkaufspassage des Eden-Gebäudes,  in dem neben der Redaktion der Associated Press, für die ich früher in Deutschland gearbeitet hatte, auch die Konsularabteilung der bundesdeutschen Botschaft untergebracht war.  Ich vermute, dass ich Ducs liebster Kunde war,  weil ich jeden Tag bei ihm die Saigon Daily News, die Saigon Post, den Saigon Guardian und den Journal d’Extrème Orient kaufte und mehrmals in der Woche auch zwei vietnamesischsprachige Zeitungen. Nicht dass ich letztere mühelos lesen konnte; mich lockten eigentlich nur die großen weißen Flecke im Textteil ihrer Seiten an, das Werk regierungsamtlicher Zensoren. Zu ermitteln, was da dem Leser vorenthalten werden sollte, war jeden Morgen ein den Verstand schärfendes Gedankenspiel.
Eines späten Nachmittags nun, unmittelbar von dem Anbruch der Monsunzeit, wurden Duc und ich Geschäftspartner. Pechschwarze Wolken hingen tief im Tropenhimmel; gleich würden sie bersten und Wasserscheiben von der Schnittkraft eines Fallbeils auf unsere Köpfe entsenden; Saigons Prachtboulevard würde sich binnen Sekunden in einen brodelnden Strom verwandeln. Eilig manövrierte ich meinen Citroen in eine enge Parklücke direkt vor dem Givral, was eine beachtliche Muskelkraft erforderte, weil das schwere Gefährt mit seinem gusseisernen Sechs-Zylinder-Triebwerk keine Servolenkung hatte. Erschöpft schaltete ich den Motor ab und freute mich schon auf die Flasche Bière Larue, die mich auf der überdachten Terrasse des Hotels Continental Palace direkt gegenüber erwartete. Da stellte sich mir Duc in den Weg.
Duc zeigte auf meine Windschutzscheibe, hinter die ich einen Schutzschein von der deutschen Botschaft geklebt hatte. Er trug die deutschen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold, den Stempel und die Unterschrift eines Konsularbeamten und wies mich als Bao Chi Duc aus: als einen Vertreter der deutschen Presse. Dieses Dokument sollte mich vor Unannehmlichkeiten bewahren, wenn ich bei Wochendausflügen nach Vung Tau, ein Seebad, das früher unter dem Namen Cap Saint Jacques  als das St. Tropez des Orients galt, in eine Vietcong-Straßensperre geriet. Und tatsächlich: Nie widerfuhr mir zu solchen Anlässen Schlimmeres, als dass mir die in schwarzen Pyjamas uniformierten Partisanen einen Wegzoll berechneten, diesen aber für meine Spesenabrechnungen gewissenhaft quittierten.
„Du bist ein Duc“, rief der Griewatsch freudig, du bist ein Deutscher. „Ich heiße Duc. Du Duc, ich Duc, wir beide Duc. Wir Brüder.“
Wir schüttelten uns die Hände, und damit hatte ich fortan einen jüngeren Bruder in Saigon. Nach ein paar Tagen fand ich heraus, dass dies zudem ein Wortspiel war: Ducist auch die vietnamesische Vokabel für tugendsam. Dann aber kam er gleich zur Sache:
„Okay, Okay“, sagte er hastig, „gleich setzt der Regen ein, Bruder Duc. Regen Numbah Ten.“ Im Saigoner Straßenjargon bedeutet „Numbah ten“ (Nummer zehn) das Allerschlechteste.
„Okay, okay“, fuhr Duc fort. „Du, Duc, Du Numbah One“, also mithin der Allerbeste. „Okay, okay, können wir miteinander ins Geschäft kommen?“
Sogleich entwickelte er einen Plan, der uns beiden Vorteile bringen sollte: Ich würde ihm und seinen obdachlosen Anvertrauten während der Regenzeit in meinem geparkten Citroen Unterschlupf gewähren. Mein Auto würde ihr Schlafzimmer sein. Im Gegenzug würden sie es sauber halten und vor Dieben schützen. Mein Schloss funktionierte eh nicht mehr; soviel hatte Duc bereits ermittelt.
„Okay, okay, Duc?“ beschwor er mich ungeduldig.
Ich nickte. Er pfiff, und alsbald kamen acht Straßenkinder aus verschiedenen Hauseingängen und drängelten sich in meinen Wagen. Drei kringelten sich auf meiner Rückbank zusammen, zwei davor auf den Klappsitzen, wie sie in schweren Limousinen der Vorkriegszeit üblich waren. Je ein Kind streckte sich in den Beinräumen zwischen den Vorder-, den Mittel- und den Rücksitzen aus, ein kleines Mädchen machte es sich auf dem Beifahrerplatz bequem, und Duc, der Kapitän, setzte sich hinters Steuer.
Bonne nuit, Duc!“, rief er, gute Nacht! „Du Numbah One.“ Damit kurbelte er sein Fenster hoch, und alsgleich setzte der Monsunregen ein. Die Kinder waren im Trockenen. Ich war binnen Sekunden bis auf die Knochen durchnässt, und die Tu-Do Straße hatte sich in einen reißenden Strom verwandelt. Ich watete so schnell ich konnte hinüber zum Continental und benötigte nun mehr als ein Bier. Erst musste ich mich duschen, danach brauchte ich einen Whisky. Da saß ich nun auf der Terrasse und blickte zufrieden über die Straße zu meinem Citroen, bis schlagartig die tropische Nacht anbrach. Seine Fenster waren beschlagen; der Regen prasselte  auf sein Dach und machte dabei einen unbeschreiblichen Lärm. Nie in meinen fünf Vietnam-Jahren hat mir eine Szene so wohlgetan: Die Kinder schliefen im Trockenen. Mich überkam ein Glücksgefühl, wie es mir selten in meinem weiteren Reporterleben vergönnt war.
Duc kam mir als erster in den Sinn, als ich beschloss, 40 Jahre nach dem fatalen Abzug der amerikanischen Truppen aus Südvietnam meine Memoiren über meine fünf Jahre in diesem zauberhaften und doch so gepeinigten Land zu veröffentlichen. Dieser Straßenjunge verkörperte viele der Qualitäten, die ich an den Vietnamesen liebgewonnen hatte: ihren Fleiß, ihre Pfiffigkeit, ihre Spannkraft, ihre augenscheinlich überdurchschnittliche Intelligenz, ihre Leidensfähigkeit und – wenn sie mit dem nötigen Respekt und mit Finesse behandelt wurden – ihre Loyalität.
An Duc dachte ich, als ich, nunmehr mit der großen Kolonie vietnamesischer Flüchtlinge und ihrer Nachkommen in Südkalifornien eng verknüpft, melancholisch darüber reflektierte, was ihnen dadurch zugefügt wurde, dass die USA sie letztlich im Stich ließen: zwischen 200.000 und 400.000 ertranken auf der Flucht vor den kommunistischen Siegern, hunderttausende wurden hingerichtet, hunderttausende mehr in Umerziehungslagern gefoltert. In meiner Nachbarstadt Westminster begegne ich immer wieder Männern und Frauen, die nach wie vor psychisch und physisch an den Folgen dieser Martern leiden; Hanoi hatte sie schließlich ziehen lassen, aber als menschliche Wracks. Noch viel mehr ehemalige Soldaten der südvietnamesischen Streitkräfte leben mit posttraumatischen Belastungsstörungen fürchterlichster Art.
Dennoch lamentieren sie nicht. Sie haben sich zusammengerissen, sie sind zu etwas gekommen. Unter meinen Freunden sind ehemalige Obristen, die nach ihrer Flucht in den USA nach 1975 als Gelegenheitsarbeiter und Hauspersonal begonnen hatten und nun – vier Jahrzehnte später – stolz  auf das seien können, was sie geleistet haben: ihre Kinder sind heute Ärzte, Anwälte, Richter und renommierte Zahnärzte; ihre Enkel sind so straff erzogen, dass sie mit blendenden Zensuren von den Oberschulen abgingen und nun mit großzügigen Stipendien ausgestattet an den feinsten Universitäten Amerikas studieren. Die Vietnamesen gehören zu den erfolgreichsten und problemlosesten Minderheiten in den Vereinigten Staaten. Sie demonstrieren nicht, sie randalieren nicht, sie verbrennen sich nicht das Hirn mit Rauschgift, sie verbrennen keine Sternenbanner, um ihre angelsächsischen Nachbarn zu provozieren, sie füllen nicht die Gefängnisse oder liegen dem Steuerzahler zur Last. Nein, sie lesen und studieren, arbeiten gewissenhaft und treiben Handel, sie erziehen ihre Kinder mustergültig und sehen obendrein auch noch anmutig aus.
Das alles ging mir durch den Kopf als ich mich an meine kurze Freundschaft mit Duc zurückerinnerte, auf den sich der Titel dieser Memoiren symbolhaft bezieht, so wie er natürlich auch meinen Spitznamen ins Gedächtnis rufen soll, mit dem mich manche meiner vietnamesischen Freunde in Kalifornien heute wieder anreden. Ich hoffe, dass Ducs Leben letztlich so glücklich verlief wie das ihre, aber wissen kann ich dies nicht.  Wir verloren eineinhalb Jahre nach unserem ersten Treffen den Kontakt. Was war seither aus ihm geworden? Wurde er in die südvietnamesische Armee eingezogen? Wurde er verwundet, fiel er gar im Gefecht? Schloss er sich den Vietcong an; starb er in ihren Diensten? Wurde er, wie zehntausende anderer Zivilisten, während der kommunistischen Tet-Offensive 1968 massakriert? Oder floh dieser umtriebige Geselle 1975 auf einem  Fischerboot? Vielleicht lebt er als ein wohlhabender Geschäftsmann bei mir um die Ecke.
„Vielleicht wird er die englische oder die vietnamesische Ausgabe deines Buches lesen“, mutmaßten meine Freunde Quy Van Ly und seine Frau QuynhChau, auch Jo genannt, als sie mich einluden, auf einem Kongress früherer Sanitätsoffiziere des südvietnamesischen Militärs die Festansprache zu halten. „Schreib’ über Duc“, drängten sie mich Quy und Jo, die beide Zahnärzte sind. „Schreib’, wie’s damals war in unserer Heimat. Tu’s für uns und für unsere Kinder, die ein großer Wissensdurst über das Land ihrer Vorfahren treibt. Als Deutscher bist Du glaubwürdiger als irgendwelche amerikanischen, französischen oder vietnamesischen Autoren, denn dies war ja nicht dein Krieg. Du warst doch nur ein Beobachter.“ Andere Kongressteilnehmer setzten sich an unseren Tisch: Ärzte, Zahnärzte und Apotheker. Sie alle rieten mir das gleiche, und verbreiteten hernach mein Referat über ihre Webseiten im Internet.
Wie ich schon eingangs schrieb, habe ich die Eroberung Südvietnams durch die Kommunisten alles andere als begrüßt. Sie haben diesen Triumph so wenig verdient wie die Taliban in Afghanistan ihren Triumph verdient haben werden, wenn die NATO ihrem Land den Rücken kehrt. Diese düstere Aussicht war ein weiterer Grund, aus dem ich dieses Buch geschrieben habe. Ich war in Vietnam Zeuge ruchloser Gräuel, die kein Fehlverhalten einer verwahrlosten Soldateska waren, wie das in jedem Krieg vorkommt, sondern der Vollzug einer sorgfältig ausgeklügelten kommunistischen Terrorpolitik, von „oben“ befohlen, ganz so wie die Genozide des Dritten Reichs, des Stalinismus und der „großen proletarischen Kulturrevolution“ Mao Zedongs. Verglichen damit waren die unbestreitbaren Kriegsverbrechen schlecht geführter amerikanischer und südvietnamesischer Einheiten, die damit sowohl gegen die politischen Ziele Washingtons und Saigons als auch gegen internationales Recht verstießen, begrenzt.  Sie machten aber mehr Furore, weil sie in der westlichen Presse ausführlich beschrieben und dann auch militärstrafrechtlich geahndet wurden, wie zum Beispiel das Massaker von My Lai im März 1968.
Als passionierter Journalist alter Schule empfand ich es, dies sei hier klargestellt, als schandbar, dass viele amerikanische Kollegen, darunter die berühmtesten, die eigene Seite systematisch schlecht redeten und den totalitären Charakter des Gegners verniedlichten oder gar verschwiegen. Ebenso verachtete ich die Arroganz und Unredlichkeit, mit der Kommentatoren und Intellektuelle von Weltrang den Charakter, die Kompetenz und den Mut der Südvietnamesen diffamierten und dies heute noch tun. Dieser Hochmut hat dazu beigetragen, dass die falsche Seite diesen Krieg gewann und hunderttausende unschuldiger Menschen dadurch ihr Leben verloren. Noch eines empört mich noch heute: die haarsträubende, selbstgerechte Weise, mit der die nach dem platten Motto „make love not war“ ausgerastete Hippiegesellschaft der Sechzigerjahre in den USA die heimkehrenden Vietnam-Krieger behandelte: Diese an Leib und Seele blutenden jungen Männer, fast alles Wehrpflichtige, wurden von einer Minderheit ihrer Landsleute, aber leider einer großen, als „Babykiller“ gemieden und verhöhnt. Ebenso verwerflich ist es, dass die US-Medien das andauernde Leiden der verwundeten und gemarterten südvietnamesischen Kriegsveteranen in ihren Mitte hochnäsig ignorieren, selbst dann, wenn neue wissenschaftliche Studien über ihren furchtbaren Zustand vorliegen.
Dieses Buch ist eine Sammlung persönlicher Skizzen dessen, was ich in meinen Vietnam-Jahren sah, erlebte, genoss, erlitt und beobachtete, worüber ich lachte, trauerte und schrieb. Es ist ein Mosaik teils erschreckender, teils absurder, teils glamouröser, teils zauberhafter und frivoler Erlebnisse, die mich manchmal verzweifeln, manchmal hoffen ließen. Auf den geistlichen Aspekt dieses Abschnittes meines Lebens werde ich in den folgenden Seiten nicht näher eingehen, weil er dort nicht hingehört. Deswegen erwähne ich ihn in diesem Prolog. Jetzt an meinem Lebensabend weiß ich, was ich in den zurückliegenden Jahrzehnten allenfalls ahnte: Vietnam hat mich zu dem lutherisch geprägten christlichen Glauben zurückgeführt, den mir meine Großmutter Clara Netto auf ihrem Schoß im Luftschutzkeller vermittelt hatte, indem sie mich, während um uns herum Bomben detonierten, eng an sich presste und mir ins Ohr sang: „Ach, bleib’ mit deiner Gnade, bei uns, Herr Jesu Christ, dass uns hinfort nicht schade des bösen Feindes List“, wobei sie mir klarmachte, dass mit dem „bösen Feind“ selbstverständlich nicht die Engländer gemeint waren, deren Flugzeuge uns angriffen, sondern Satan.
Es wäre unredlich, zu behaupten, dass ich in den Sechszigerjahren ein frommer Christ gewesen wäre. Mein Lebensstil war reich an Lastern, unter denen das Kettenrauchen zu den harmloseren gehörte, zumal Tabak in Kampfsituationen betäubend wirkt, wie alle Frontsoldaten bestätigen werden. Das Photo auf meinem Buchtitel zeigt mich in einer Gefechtspause während der Schlacht um Hue im Februar 1968. Es verniedlicht nichts. Es ist realistisch. Darin liegt seine Aussagekraft; deswegen haben wir es ausgewählt. So sieht eben ein Mensch aus, wenn er Tag und Nacht um sich herum Menschen sterben sah. Es zeigt einen noch jungen Mann in einer unvergesslich grauenvollen Situation, die den Rest seines Lebens entscheidend bestimmen sollte. Genau dies ist meine Geschichte. Solche Erlebnisse wirken langfristig, nicht von einem Tag auf den anderen. Erst zehn Jahre nach der Tet-Offensive verzichtete ich endgültig  auf den Nikotingenuss, weil die Vernunft, eine Gottesgabe, es mir gebot. Andere Schwächen hielten länger an.
Ich war nie ein Atheist und auch kein Agnostiker, sondern hatte mir in meiner Torheit damals aber einen langen hedonistischen Glaubensurlaub gegönnt. Wohl betete ich von Zeit zu Zeit das Vaterunser und summte gelegentlich den Kollekten-Versikel aus dem 51. Psalm, der nun zum Leitspruch meiner alten Tage geworden ist: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz...“   Und wenn ich Augenzeuge schwerer Kämpfen war und vielleicht einem sterbenden Soldaten die Hand hielt, dann sang ich in meinem Kopf das „Kyrie eleison“, das ich als Kind gelernt hatte: Herr, erbarme dich. Heute bin ich dafür dankbar, dass ich mit der üppigen Liturgie der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens aufgewachsen war. Ihre Worte sind seither tief in meinem Gedächtnis verankert. Wie trostreich sie sind, kann ein nur lascher Christ vielleicht erst dann ermessen, wenn er einmal in einer lebensbedrohlichen Lage war, in der ihm notabene seine eigene Verwerflichkeit klar wurde.
Ich hatte, wohl dem Beispiel des Kirchenvaters Augustinus folgend, Gott einen Platz hinten im Wartezimmer meiner Biographie zugewiesen. Zu liebreizend waren die exotischen Wesen mit langen schwarzen Haaren, diese so zerbrechlich ausschauenden und doch handfesten Frauen, in deren Armen unsereins das Kriegsgeschehen einige Stunden lang vergaß; zu gut das Essen in Saigons französischen Restaurants; zu lustig die Kameraderie vor allem meiner britischen Kollegen, die wie ich kräftig dem Wein zusprachen und mit Witz den Horror verdrängten, von dem wir gerade zurückgekommen waren und zu dem wir am nächsten oder übernächsten Morgen zurückkehren würden.
In dem Jahr, in dem die Amerikaner Vietnam den Rücken kehrten, also 1973, hörte ich mich zu meinem eigenen Erstaunen in einem gottlosen Umfeld ein Christusbekenntnis ablegen. Dies geschah unter skurrilen Umständen am Ende der Morgenkonferenz einer von mir geleiteten Zeitungsredaktion nach einem bitteren Schlagabtausch mit dem hasserfüllten Flügel meiner linksradikalen Kollegen.  Wie es dazu kam, soll das Thema für einen anderen Zeitpunkt und ein anderes Buch bleiben. Hier sei nur festgehalten, dass dies ein entscheidender Wendepunkt in meinem Leben war, einer freilich, dem noch viele Versuchungen und innere Kämpfe folgen sollten, bevor ich mich 13 Jahre später an der lutherischen theologischen Hochschule in Chicago einschrieb. 
Langsam, fast homöopathisch, hatte Vietnam mich verändert, ohne dass ich mir dessen selbst immer gewärtig war. Zunächst bildete ich mir ein, zum Pfarramt berufen zu sein, bis meine kluge Frau mich davon überzeugte, dass ich mit meiner scharfzüngigen Journalistenart jede Gemeinde binnen 24 Stunden spalten würde. „Dein Platz in der Kirche ist weder am Altar noch in der Kanzel sondern hinten auf einer der letzten Bänke, so dass du notfalls zum nächsten Tresen flüchten kannst, bevor du bei einer schlechten Predigt explodierst. Studiere Theologie, um verständlich darüber zu schreiben“, riet mir Gillian, und sie hatte Recht.
Bevor ich mich aber für den rein akademischen Weg entschied,  nahm ich noch an einem Sommerpraktikum teil, das in den USA für alle angehenden Pfarrer Pflicht ist.  Es heißt „Clinical Pastoral Education“, zu Deutsch: klinische Seelsorgeausbildung. Ich absolvierte diesen Kursus in St. Cloud im Bundesstaat Minnesota an einem Krankenhaus für ehemalige Kriegsteilnehmer, das eine renommierte psychiatrische Abteilung hatte. Dort bat ich meine Vorgesetzten, mich als Seelsorger für Vietnam-Veteranen abzustellen. Alsbald bekam ich es mit zerrütteten Menschen zu tun, die mir Erschütterndes über die bornierte Grausamkeit schilderten, mit der ihre eigenen Landsleute, namentlich junge Frauen, sie verstoßen hatten. Schon meine ersten Gespräche mit ihnen zeigten, dass sie fast alle davon überzeugt waren, von Gott längst zu ewigen Höllenqualen verdammt worden zu sein. Gott, so meinten sie, sei in Vietnam desertiert.
Dies war der perfekte Ansatzpunkt für meine seelsorgerliche Arbeit, zumal ich mich zuvor sehr intensiv mit der lutherischen Kreuzestheologie aus der Sicht Dietrich Bonhoeffers beschäftigt hatte.  Zusammen mit dem Psychologen James Tuorila bildete ich Therapiegruppen, denen jeweils bis zu 30 frühere Soldaten angehörten, vom einfachen Schützen bis zum Oberstleutnant. Ich gab ihnen Bonhoeffers Buch „Widerstand und Ergebung“ zu lesen. An diesem Werk faszinierte sie vor allem die Aussage: „,Könnt Ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?’ fragt Jesus in Gethsemane. Das ist die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet. Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden.“
Dies war das erste Mal, dass diese ehemaligen Krieger eine christliche Kernwahrheit erfuhren: Wenn der Christ gehalten ist, mit Gott an dieser Welt zu leiden, dann doch in der Nachfolge Jesu. Das Leiden dieser Männer in Vietnam und hernach in der Heimat war das ihnen auferlegte Kreuz. Aber das heißt ja, dass Gott selbst an der Welt leidet, deren Gottlosigkeit diese Kriegsleute täglich am eigenen Leibe erfuhren. Wenn dies so ist, dann ist Gott also keineswegs ein Deserteur, wie sie geglaubt hatten, sondern im Gegenteil ein mit ihnen leidender Kamerad. Deshalb ist er von der Anklage der Fahnenflucht freizusprechen. Ich nahm die Diskussionen der Veteranen über Bonhoeffer auf Band auf, redigierte und kommentierte sie  und legte sie meiner Hochschule in Chicago als Magisterarbeit vor. Diese kam 1990 in New York als Buch mit dem Titel „The Acquittal of God  (Freispruch für Gott) heraus. Es ist heute noch in Druck und gilt in den USA als ein Standardwerk für den theologischen Umgang mit ehemaligen Kriegsteilnehmern.
Danach hatte ich Anlass, mich auf eine ganz andere Weise mit dem Thema Vietnam auseinandersetzen. Ich wechselte zur Boston University über, um mich auf meine Promotion in der Doppeldisziplin Theologie und Religionssoziologie vorzubereiten. Dabei erwachte mein Interesse am soziologischen Phänomen des stereotypen Denkens. Bei dem niederländischen Soziologen Anton Zijderveld entdeckte ich eine griffige Definition des Klischees als einer Metapher für eine Denkweise, die er so definierte: „Klischees umgehen die Reflektion und bearbeiten somit den Verstand im Unterbewusstsein, wobei sie potentielle Relativierungen ausschließen“ (Zijderveld, Anton: On Clichés. London 1979). Klischees, sagt Zijderveld, würden von der Gesellschaft sozialisiert, und wenn dies erst einmal geschehen sei, würden sie zu „Klumpen schal gewordener Erfahrungen“, die  „stets abrufbar im Bewusstsein der Menschen [lagern]." Zijderveld sah eine enge Wahlverwandtschaft zwischen Klischees und der Moderne. In meiner Doktorarbeit ging ich einen Schritt weiter: Klischeedenken, so behaupte ich, ist ein Zwilling des Zeitgeistes, der ebenfalls keine potentiellen Relativierungen zulasse. Der Zeitgeist wiederum hat eine Eigenschaft, die Zijderveld auch den Klischees zuschreibt: „[Sie] werden tyrannisch. Mit anderen Worten, in einer voll modernisierten Gesellschaft lassen sich Klischees nur schwer vermeiden; sie tendieren  dazu, Gussformen des Bewusstseins zu werden, während ihre Funktionskraft ... tief in die Strukturen des sozioökonomischen und politischen Lebens eindringt.“
Meine Dissertation hatte nichts mit Vietnam zu tun sondern war angelegt, das weit verbreitete Klischee zu widerlegen, dass Martin Luther ein Wegbereiter Adolf Hitlers gewesen sei. Ich wies auf eine große Zahl relativierender Faktoren hin, die diese Verleumdung ad absurdum führten. Etwas Ähnliches versuche ich in diesem Buch in punkto Vietnam, freilich nicht auf wissenschaftliche, sondern auf eine erzählerische Weise. Denn auch zu diesem Thema lagert – fast 40 Jahre nach dem Einmarsch der Kommunisten in Saigon – ein stereotyper Klumpen im kollektiven Bewusstsein der Menschen: das absurde Klischee nämlich, dass dieser mit Mitteln des Terrors und Massenmordes errungene Sieg ein Befreiungsschlag und somit eine gute Sache gewesen sei. In seiner, wie Zijderveld sagen würde, tyrannischen Weise zieht dieses Klischee keine relativierenden Faktoren in Betracht. Im vorliegenden Buch versuche ich sie plastisch zu schildern, um einer infamen Geschichtslüge entgegenzutreten.
Bei manchen Lesern mag bei der Lektüre von Duc der falsche Eindruck entstehen, dass dies ein Stück Belletristik wäre. Ich habe es streckenweise bewusst in diesem Genre geschrieben, um meine Leser bei der Stange zu halten. An zwei Stellen habe ich mir aus dramaturgischen Gründen die schriftstellerische Freiheit genommen, zwei oder drei Personen zu einer zu verschmelzen, und in einigen Fällen habe ich Namen geändert, einfach um Menschen oder ihre Nachfahren vor Spott oder gar Verfolgung zu bewahren. Aber alle hier erzählten Begebenheiten sind wahr und alle Persönlichkeiten, trotz Pseudonyms, authentisch.
Um mich selbst und meine Leser daran zu erinnern, dass dies ein Buch über einen tragischen Krieg ist, der 1975 mit der Niederlage der Opfer einer Aggression endete, füge alle paar Kapitel Betrachtungen ein, die diese Tatsache unterstreichen. Ich beginne gleich nach diesem Prolog mit einer kurzen Betrachtung über den Massenmord
, den die Nordvietnamesen und der Vietcong während der Tet-Offensive Anfang 1968 begingen.
Ich schulde vielen Menschen Dank, namentlich meinen Freunden Quy und Jo, die mir standhaft zur Seite standen, während ich an diesem Manuskript arbeitete. Sobald ich ein Kapitel beendet hatte, übersetzte Quy es mit der Hilfe seines in den Niederlanden lebenden Freundes Nguyen Hien in ein elegantes Vietnamesisch und entwarf die Titelseite der amerikanischen Ausgabe. Ich bin stolz, heute Teil von Quys Familie zu sein. Ich danke dem Griewatsch Duc, auch wenn ich ihn aus den Augen verloren habe,  und meinen vielen vietnamesischen, amerikanischen, französischen, britischen und deutschen Freunden aus Vietnam-Zeiten. Ich danke den Vietnam-Veteranen, deren Seelsorger ich vorübergehend in St. Cloud war, und den Psychologen, Psychiatern und Geistlichen, mit denen ich damals fruchtbar zusammenarbeitete. Mein besonderer Dank gilt meinem Freund und Kollegen Perry Kretz, der mir seine dramatischen Bilder von unserer gemeinsamen Vietnam-Reportage 1972 zur Verfügung stellte, und Karin Jansky-Barron, die das Manuskript der deutschen Ausgabe dieses Buches mit großer Kompetenz und einem verblüffenden Tempo Korrektur las.
Mit Wehmut gedenke ich meines damaligen Verlegers Axel Springer und seines Edelmuts, als ich 1966 in Saigon fast gestorben wäre. Er starb 1985, lange nachdem ich seinen Verlag verlassen hatte. Dies zu tun war eine Torheit, die ich heute noch bereue.
Vor allem aber danke ich meiner Frau Gillian, die mir in unseren bislang 51 Ehejahren unerschütterlich zur Seite stand und die monatelangen Trennungen ertrug, die mein Einsatz in diesem betörenden Land erforderte, dem nach wie vor meine Liebe gilt.

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Epilog

Frucht des Terrors und die Tugend der Hoffnung

                        Über vier Jahrzehnte sind seit meinem Abschiedsbesuch in Vietnam vergangen. Am 30. April 2015 wird die Welt den 40. Jahrestag des kommunistischen Sieges begehen. Der Bahnhof von Hué, von dem damals jeden Morgen um acht eine Lokomotive mit Gepäckwagen zu einer symbolischen 500-Meter-Reise aufbrach, ist längst nicht mehr eine Bühne des Theaters des Absurden. Er wurde sorgfältig restauriert und rosarot angestrichen. Wie zur französischen Kolonialzeit ist er wieder die schönste Station in ganz Indochina. Auf ihrem Vorplatz müssen Taxifahrer nicht mehr umsonst auf Fahrgäste warten. Zehn bequeme Züge halten hier jeden Tag, fünf auf dem Weg nach Norden, fünf unterwegs nach Süden. Inoffiziell tragen sie den kollektiven Namen Wiedervereinigungs-Express.
                                     Sollte ich jetzt nicht jubeln? Ist das nicht wie in Deutschland, wo die Berliner Mauer und die Minenfelder entlang der Zonengrenze verschwunden sind und Hochgeschwindigkeitszüge mit Tempo 300 den vormals kommunistischen Osten und den demokratischen Westen unseres Landes miteinander verbinden?
                                     Selbstverständlich bin ich froh, dass der Krieg vorbei ist. Aber hier endet der Vergleich mit Deutschland, das seine Einheit ja vor allem aus drei Gründen wiedererlangte: Erstens stürzten die Deutschen in der DDR ihr totalitäres Regime – und dies nicht mit Gewalt sondern mit einem friedlichen Widerstand; zweitens waren der Westen und die Sowjetunion mit einer seltenen Kombination weiser Staats- und Regierungschefs gesegnet: Erst Ronald Reagan, dann George H.W. Bush in den USA, zudem Helmut Kohl in der Bundesrepublik und Michail Gorbatschow in Moskau. Drittens brach das absurde sozialistische System des Ostblocks wirtschaftlich zusammen, weil es sich letztlich als eine Fehlkonstruktion erwiesen hatte. Niemand kam dabei um. Niemand wurde gefoltert. Niemand musste in Konzentrationslagern schmachten. Niemand wurde in die Flucht getrieben. Niemand ertrank. Niemand wird heute im wiedervereinigten Deutschland wegen seines Glaubens, seines Besitzes oder seiner politischen Gesinnung verfolgt.
                                     Aber heute noch begrüßen selbst renommierte Fachleute den kommunistischen Triumph über Südvietnam als eine „Befreiung“, vielleicht ohne zu ahnen, dass sie damit in der infamen Tradition des linksliberalen Harvard-Professors John Kenneth Galbraith stehen, der Südvietnam hochmütig die „Rückkehr in den reichlich verdienten Zustand der Nichtigkeit“ wünschte. Die naheliegenden Fragen werden kaum gestellt: Wer wurde in Vietnam eigentlich von wem und zu welchem Zweck „befreit“? War es wirklich eine „Befreiung“, dass diesem Land ein totalitärer Einparteienstaat aufgezwungen wurde, der weltweit zu den verwerflichsten Übertretern von Grundrechten gehört, zum Beispiel dem Recht auf Religions-, Presse- und Redefreiheit?
                                     Und was waren das für „Befreier“? Betrachten wir den Mann, der diesen Eroberungskrieg angezettelt hatte. Einer seiner Namen wurde an allen westlichen Universitäten skandiert: Ho-Ho-Ho-Chi-Minh. Aber so hieß er nicht wirklich. Heute wissen wir, dass er seit den frühen Zwanzigerjahren ein Agent der sowjetischen „Komintern“ (Kommunistischen Internationale) war und mindestens 170 Namen und Pseudonyme führte. Wer an der Wahrheit über ihn interessiert war, hätte schon in den Sechzigerjahren aus seriösen, überparteilichen Quellen erfahren können, dass er sogar nach seiner eigenen Aussage nie Anderes im Schilde führte, als den Sieg des Marxismus-Leninismus in der ganzen Welt. Mit diesem Ziel vor Augen hatte er in Indochina im Verlauf von drei Jahrzehnten alle Freiheitskämpfer beseitigen lassen, die nicht der Moskauer Parteilinie folgten: vor allem bürgerliche Nationalisten und Monarchisten, aber auch Trotzkisten.
                                     Es war, als ich in Saigon wohnte, kein Geheimnis, dass Ho von 1953 bis 1956 im kommunistischen Teil Vietnams bei einer „Landreform“ stalinistisch-maostischen Stils mindestens 200.000 Grundbesitzer zu Tode foltern und unzählige andere in den Selbstmord trieben ließ. Ich sage: mindestens. Andere Quellen beziffern die Opfer auf eine halbe Million. Sein erklärtes Ziel war auch nicht in erster Linie eine Agrarreform sondern die „Neutralisierung“ aller potentiellen „Klassenfeinde“, ganz so wie bei ähnlichen Massenmorden Stalins und Maos in ihren Ländern. Einer Bewegung mit dieser verbrecherischen Vorgeschichte überantwortete aber der amerikanische Kongress Südvietnam, als er 1974 jegliche weitere Militärhilfe für dieses blutende Land untersagte! Das US-Parlament folgte damit der unverantwortlichen Konklusion des Harvard-Professors Galbraith und Gleichgesinnter, dass dieser Gegner gar nicht existiere.
                                     Was war das also für eine „Befreiung“, die zwischen 1955 und 1975 über 3,8 Millionen Menschenleben kostete und eine Million in die Flucht trieb, wovon zwischen 200.000 und 400.000 sogenannte „Boat People“ ertranken? Wie konnte der Westen den Begriff „Befreiung“ akzeptieren, deren Ausführende nach ihrem Sieg alle jene eliminierten, von denen sie meinten, dass sie ihnen später einmal gefährlich werden könnten. Hier tut sich ein unüberbrückbarer Kontrast zwischen den Ereignissen in Vietnam 1975 und jenen in Deutschland 1989/90 auf. Als die DDR unterging, wurde kein einziger NVA- oder Stasi-Offizier hingerichtet. Aber kaum war Saigon gefallen, da exekutierten die Kommunisten 100.000 Offiziere und Beamte des überwältigten Gegners, trieben zwischen einer und 2.5 Millionen Menschen in Umerziehungslager, wo 165.000 unter grauenvollen Qualen starben und hunderttausende mehr so schwer gefoltert wurden, dass sie heute noch an Gehirnschäden und psychischen Problemen leiden, wie ein internationales Forscherteam unter Leitung des Harvard-Psychiaters Richard F. Molina ermittelte. Seine Erkenntnisse erschienen den wenigsten amerikanischen Medien vermeldenswert.
                                     Seit Mitte der Sechzigerjahre akzeptieren politische, journalistische und historische Mythographen im Westen aus Naivität oder intellektueller Unaufrichtigkeit die Propagandalüge Hanois, dass dies ein „Volkskrieg“ gewesen sei. Das „s“ in der Mitte dieses Wortes konnotiert jedoch den Genitiv; die Vokabel „Volkskrieg“ ist somit eine Kurzform für „Krieg des Volkes“. Aber genau dies war er nicht. Er war vielmehr ein Krieg gegen das Volk, und die Insassen der akademischen Elfenbeintürme des Westens und viele Medienvertreter machten sich zu Komplizen eines mörderischen Unternehmens, das in eine Kategorie gehört, für die der Politologe Rudolf Joseph Rummel von der Universität von Hawaii den Begriff „Demozid“ geprägt hat.
                                     Demozid war laut Rummel die führende widernatürliche Todesform des 20. Jahrhunderts. Demozid ist ein weitreichenderer Begriff als Genozid (Völkermord). Demozid beschränkt sich nicht darauf, unwillkommene Volksgruppen zu liquidieren. Demozid ist laut Rummel der „von einer Regierung verübte Mord an irgendeiner Person oder irgendeinem Volk.“ Wie Rummel weiter erläuterte, fallen „Genozid, Politizid (politischer Mord) und Massenmord“ unter die Rubrik Demozid.
                                     Das Gespenstische an Demoziden ist, dass mit ihnen Ziele verfolgt werden, die denen des sardischen Marxisten Antonio Gramsci (1981-1937) entsprechen, dessen geistiges Erbe heute wieder hoch im Kurs steht, insbesondere bei der einflussreichen Linken im akademischen Leben der USA. Gramsci, ein Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, plädierte für die Auflösung aller politischen, sozialen, kulturellen, religiösen, sprachlichen und wirtschaftlichen Institutionen und damit implizit auch der bürgerlich-demokratisch geprägten Ideale von Würde und Freiheit. Genau dies wird mit Demoziden beabsichtigt. Allerdings muss hier betont werden, dass Gramsci diese Ergebnisse blutlos zu erreichen trachtete, nachdem er den Wahnsinn der stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion miterlebt hatte.
                                     Nordvietnam strebte dieses Resultat hingegen auf die altmodische Weise an, nämlich per Demozid, während seine Fürsprecher in den westlichen Elfenbeintürmen es vorzogen, nach dem Modell Gramsci das eigene Blut zu schonen und die Segnungen der eigenen Institutionen voll auszuschöpfen, solange es sie noch gab. Der westdeutsche Vietcong-Propagandist Erich Wulff lieferte hierfür ein Musterbeispiel. Nach eigenem Eingeständnis trat er nur deshalb der 1968 gegründeten DKP nicht bei, weil er seinen Beamtenstatus als Professor für Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule in Hannover nicht verlieren wollte.
                                     Im heuchlerischen Gerede über den Vietnamkrieg während der letzten vier Jahrzehnte wurde eine Kette weiterer Fragen mutwillig übersehen: Wünschte sich das vietnamesische Volk überhaupt ein kommunistisches Regime? Wenn ja, wieso zog dann fast eine Million Nordvietnamesen in den Süden um, als das Land 1954 geteilt wurde, verglichen mit nur 130.000 kommunistischen Sympathisanten, die aus dem Süden in den Norden abwanderten?
                                     Wer begann diesen Krieg? Kämpften südvietnamesische Truppen in Nordvietnam? Nein! Überquerten südvietnamesische Guerilleros den 17. Breitengrad, um im Norden pro-kommunistischen Dorfschulzen und ihren Angehörigen den Bauch aufzuschlitzen, den Männern die Zunge herauszureißen, die Geschlechtsteile abzuschneiden und in den Mund zu stecken und den Frauen die Brüste abzuhacken, bevor sie Männer, Frauen und Kinder aufhängten? Nein! Liquidierte die südvietnamesische Regierung ganze Gesellschaftsschichten so wie im Norden hunderttausende Grundbesitzer und andere echte oder vermeintliche Opponenten des Regimes umgebracht wurden? Nein! Entstand im Süden ein monolithischer Einparteienstaat wie im Norden? Nein! In Südvietnam gab es selbst in einer Zeit , als es um sein Überleben kämpfte, freie und faire Wahlen. Ich habe sie miterlebt.
                                     Als deutscher Staatsbürger hatte ich, wie die Amerikaner sagen, „no dog in this fight“; dies war nicht mein Krieg. Aber um einen Satz aus dem Gebetsbuch für Journalisten zu paraphrasieren: Insofern hartgesottene Reporter überhaupt noch ein Herz haben, gehörte meines dem gemarterten vietnamesischen Volk, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Mein Herz gehörte – warum sollte ich diese Neigung leugnen? – seinen sublimen Frauen, die so unverblümt direkt und amüsant sein können. Es gehörte aber auch den zerebralen und immens komplizierten vietnamesischen Männern, die auf konfuzianische Weise den perfekten Traum zu träumen versuchten. Es gehörte dem kindlichen Soldaten, der mit seinem einzigen Besitz in den Kampf zog: einem Kanarienvogel in seinem Käfig. Es gehörte den jungen Kriegerwitwen, die ihre zierlichen Körper grotesk verstümmeln ließen, um heiratswillige amerikanische Soldaten zu erhaschen, junge Männer, die ihnen und ihren Kindern am jenseitigen Ende des Ozeans Sicherheit gewährten, statt sie kommunistischen Tyrannen zu überlassen. Mein Herz gehörte den städtischen und ländlichen „Griewatschen“ wie Duc, dem Zeitungsjungen in Saigon, und Duc, dem elternlosen Hirtenburschen, der seinen Wasserbüffel entlang der freudlosen Straße in Zentralvietnam weidete.
                                     Ich hatte als Kind vor dem Kommunismus fliehen müssen; vielleicht deshalb schlug mein Herz umso leidenschaftlicher für Menschen, die ich vor der Brutalität der Kommunisten flüchten sah – und zwar immer in südlicher Richtung, bis am Ende kein Quadratmeter mehr existierte, auf dem sie sich zusammenkauern konnten. Mein Herz gehörte jenen, die ich in den Massengräbern sah:  teils stehend, teils liegend, teils verbrannt, teils erschlagen, teils erschossen, teils lebendig begraben. Ich habe ihren Verwesungsgestank immer noch in der Nase.
                                     Ich war nicht in Saigon, als es fiel, nachdem die immer wieder in den amerikanischen Medien verhöhnten und letztlich von Washington im Stich gelassenen südvietnamesischen Soldaten nobel weitergekämpft hatten, wohl wissend, dass sie den Kampf weder gewinnen noch überleben würden. Ich lebte zu diesem Zeitpunkt in Paris und trauerte. Heute wünsche ich, ich hätte fünf vietnamesischen Generälen meine Reverenz erweisen können, bevor sie sich die Kugel setzten, weil sie wussten, dass der Krieg, den sie eigentlich gewonnen hatten, nun verloren war. Ich kannte sie fast alle: Le Van Hung (*1933), Le Nguyen Vy (*1933), Nguyen Khoa Nam (*1927), Tran Van Hai (*1927) und Pham Van Phu (*1927).
                                     Während ich diesen Epilog schreibe, macht sich ein junger „Kollege“ in den USA einen großen Namen damit, im Hinblick auf den 40. Jahrestag des Falls von Saigon die amerikanischen Kriegsverbrechen in Südvietnam anzuprangern. Er war damals noch nicht geboren, aber er steht unerschütterlich in der karrierefördernden Tradition der Elfenbeintürmer jener Zeit, die ihren Ruhm und ihre Reichtümer damit erwarben, dass sie den Urhebern der Vietnam-Tragödie einen Freipass gaben.
                                     Nicht, dass ich die Missetaten amerikanischer Kriegsverbrecher auch nur für eine Sekunde entschuldigte. Diese Täter gab es; sie verdienen an den Pranger gestellt zu werden. My Lai war eine Realität. Warum wollte ich das leugnen? Ich saß beim Kriegsverbrecherprozess gegen Leutnant William Calley im Gerichtssaal in Fort Benning und hörte die Beweisaufnahme und dann den Schuldspruch. Ich weiß um die unzähligen Menschenleben, deren Verlust auf das Konto des verbogenen Verstandes politischer und militärischer Führer im Washington der McNamara-Ära und im US-Hauptquartier in Saigon gehen: Menschen, die sich den perversen „Body Count“ – der Leichenquoten – ausdachten und die mit „Agent Orange“ den Urwald entblättern und Zivilisten wie und eigene Soldaten vergiften ließen.
                                     Gleichwohl lassen sich die Gewalttaten dysfunktionaler amerikanischer Verbände und die Torheit schlechter Strategen nicht mit dem im Namen Ho Chi Minhs verübten Demozid unter den Südvietnamesen vergleichen. Die ersteren waren Verbrechen, die entsprechend geahndet wurden, wenn auch oft skandalös unzureichend. Das zweite war hingegen ein eiskalt geplantes Staatsverbrechen, das Ho Chi Minhs Nachfolger bis heute als eine Heldentat feiern. Von der „kollektiven Scham“, die Bundespräsident Theodor Heuß 1949 zu Recht bei den Deutschen angemahnt hatte, ist im kommunistisch regierten Vietnam nicht einmal ansatzweise etwas zu spüren.
                                     Warum wird den kommunistischen Tyrannen in Hanoi das durchgelassen? Weil in der freien Welt weder die Staatsmänner noch Journalisten und Residenten von Elfenbeintürmen diese Machthaber fragen: Wieso haben Eure Vorgänger diese Unschuldigen abgeschlachtet, die zu befreien sie vorgaben, und wieso kolportiert ihr nach wie vor diese Fama? Als Deutscher erlaube ich mir eine Fußnote mit Fragezeichen anzufügen:  Was trieb sie zum Mord an Hasso Rüdt von Collenberg? Oder an den deutschen Ärzten in Hué? Oder an den jungen Mitarbeitern des Malteser-Hilfsdienstes (MHD)? Welch elender Kleingeist bewog Eure damaligen Genossen, Monika Schwinn und Bernhard Diehl vom MHD vier Jahre lang in Einzelhaft ihm „Hanoi Hilton“ festzuhalten? Welche hasserfüllte Spießermentalität muss sich der Führung dieses großen Kulturvolkes bemächtigt haben, dass sie am Ende selbst Monika Schwinns Katze umbrachte, ihre einzige Kerkergefährtin? Geniert Ihr Euch nicht der Schäbigkeit des Gefängniskommandanten, der Bernhard Diehl seine 6.000 Verse abnahm, bevor Diehl heimkehren durfte? Wieso fehlt Euch die menschliche Größe, ihm dieses Memento an seine vier verlorenen Jahre in Nordvietnams Verließen mit einem Ausdruck der Scham zurückzugeben?
                                     Wieso  plagen solche Fragen nicht Euer kollektives Gewissen, so wie nachdenkliche Amerikaner und Briten, deren Länder zweifellos im Zweiten Weltkrieg auf der richtigen Seite gestanden hatten, heute noch mit dem moralischen Problem der Flächenbombardements auf deutsche Wohngebiete und des Atomangriffs auf Hiroschima und Nagasaki ringen?
                                     In ihren Reminiszenzen über ihren Zwangsmarsch auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad schilderte Monika Schwinn ihre Begegnung mit nordvietnamesischen Kampfverbänden auf dem Weg nach Südvietnam als eines ihrer fürchterlichsten Erlebnisse. Sie beschrieb den tiefen Hass in den Gesichtern dieser jungen Soldaten, die von den Vietcong-Kämpfern nur mit Mühe daran gehindert werden konnten, die Deutschen auf der Stelle umzubringen. Hass ist keinem Menschen angeboren. Hass muss ihm anerzogen werden. Um Hass in den Herzen junger Leute zu säen, bedarf es einer erlesenen pädagogischen Disziplin, die zu den Spitzenprodukten totalitärer Systeme gehört.
                                     In seiner brillanten Biographie Heinrich Himmlers (München: 2008) berichtet der Historiker Peter Longerich, dass der „Reichführer SS“ Mühe hatte, seinen schwarz uniformierten Strolchen ihre angeborenen Hemmungen vor dem Mord an Unschuldigen zu nehmen, ehe er den Holocaust vorantreiben konnte. Ihnen musste erst einmal ein todbringender Hass eingeimpft werden. Nur so erklärt sich auch der Hass in den Augen der nordvietnamesischen Killer von Hué, ein Phänomen, das in meinen Interviews mit den Überlebenden immer wieder zur Sprache kam. Aber um dies zu hören, musste ich Zeit mit diesen Menschen verbringen, musste ich ihr Vertrauen gewonnen haben. Erst dann begriff ich dieses zentrale Element dieser immensen historischen Katastrophe, die auch nach 40 Jahren ihre Aktualität nicht verloren hat. In den Elfenbeintürmen amerikanischer Eliteuniversitäten und New Yorker Fernsehstudios wird so etwas nicht wahrgenommen: Deswegen ist auch so Vieles, das aus diesen Quellen zum Thema Vietnam verbreitet wird, unmaßgeblich.
                                     In seinem Buch Frankreichs fremde Söhne, Fremdenlegionäre im Indochina-Krieg  (Stuttgart: 1976) beschreibt Paul Bonnecarrère eine historische Begegnung zwischen dem legendären französischen Oberst Pierre Charton und dem nordvietnamesischen General Vo Nguyen Giap. Charton war in kommunistischer Gefangenschaft, und Giap besuchte ihn, um ihm seinen Respekt zu bezeugen. Die beiden trafen sich im Klassenraum einer Agitpropschule in Gegenwart von 20 Vietminh-Kämpfern. Das Gespräch verlief so:
                                     Giap: „Ich habe Sie besiegt, mon colonel!“
                                     Charton: „Nicht Sie haben uns besiegt, mon général. Der Dschungel hat uns besiegt ... und Ihr Terror, mit dem Sie die Zivilbevölkerung zwangen, sie(Sie?) zu unterstützen.“
                                     Giap gefiel diese Antwort nicht. Er verbot seinen Schülern, sie niederzuschreiben. Aber sie entsprach der Wahrheit, und zwar auch im zweiten Indochina-Krieg, den ich als Reporter begleitete. Genau genommen war dies aber nur eine Teilwahrheit. Den anderen Teil habe ich in diesem Band wiederholt erwähnt: Demokratien besitzen augenscheinlich tatsächlich nicht die Geduld und damit das politische und psychologische Zeug, lang ausgedehnte Kriegen zu gewinnen, die ihnen totalitäre Mächte aufzwingen. Vo Nguyen Giap hatte dies als erster begriffen. Diese Erkenntnis und gewissenlose Terrortaktiken waren die Säulen seiner Strategie. Er behielt Recht und siegte. Noch viel gefährlichere Gegner des Westens geben zu erkennen, dass sie dies zur Kenntnis genommen haben.
                                     Mit einer Gänsehaut ziehe ich heute aus meinen Vietnam-Jahren den Schluss: Wenn eine maßlos narzisstische Wegwerfgesellschaft es leid wird, Opfer zu bringen, bringt sie es fertig, alles in den Abfalleimer zu schmeißen wie eine halb gegessene Currywurst. Sie verramscht Menschen, die zu beschützen sie ausgezogen war. Sie verschleudert sogar das Leben, die körperliche und seelische Gesundheit, die Würde, das  Werk und den guten Ruf ihrer eigenen jungen Leute, die sie in den Krieg gechickt hatte.  Was dieser augenscheinliche Webfehler liberaler Demokratien über deren Überlebenschance aussagt, flößt Furcht ein, weil er ihre Legitimität untergräbt und sie damit letztlich zu zerstören droht.
                                     Ich möchte meine Vietnam-Reminiszenzen aber nicht mit dieser finsteren Note beenden. Als Zeitzeuge habe ich in meinen 77 Lebensjahren erfahren, dass Geschichte immer nach vorne offen ist, und als Christ weiß ich, welcher Herr letztlich den Verlauf der Geschichte bestimmt. Der kommunistische Sieg in Vietnam beruhte auf bösen Grundlagen: auf Terror, Mord und Verrat. Natürlich befürworte ich nicht die Wiederaufnahme des Blutvergießens, um den unverdienten Sieg Hanois zu korrigieren, selbst wenn dies möglich wäre. Aber als ein Bewunderer des unverwüstlichen vietnamesischen Volkes weiß ich auch, dass es eines Tages die richtigen Wege und Führer finden wird, sich seiner Despoten auf friedliche Weise zu entledigen. Das mag noch Jahrzehnte dauern, aber es wird geschehen.
                                     In diesem Sinne reihe ich mich in die Schlange der Rikschakulis vor dem Bahnhof von Hué ein, wo 1972 auf dem Höhepunkt des Absurden Theaters keine Fahrgäste eintrafen oder abfuhren. Wo sonst wäre mein Platz? Was bleibt mir anderes als die Hoffnung?