Friday, April 20, 2012

Wenn der Platzregen aufhört

(Dieser Kommentar erschien 2011 in der Schweizer Monatszeitschrift Factum)

Von UWE SIEMON-NETTO

Im schrillen Talkshowpalaver, das in den USA augenscheinlich den seriösen Journalismus abgelöst hat, ist eine Floskel täglich zu hören. Sie lautet „American Exceptionalism“. Dieser Begriff fußt auf der These, dass sich die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer demokratischen Ideale Freiheit, Gleichheit und Individualismus von allen anderen Nationen qualitativ unterscheiden. Dieser Gedanke ist nicht neu; er wirkt aber heute besonders grotesk, weil er zumeist mit Seitenhieben gegen Europa, insbesondere Frankreich, geäußert wird. Kein Land sei so großmütig, hilfsbereit und opferwillig wie die USA, sagen die Kommentatoren, aber keines ernte soviel Undank. Kurz, Amerika sei herzensgut, während das „sozialistische“ Europa den Makel habe, dass es dort zu viele Europäer gebe. Mit dieser Abgeschmacktheit erntete ein Medienstar unlängst im Fox-Kabelfernsehen das vergnügte Prusten seiner Mitschwätzer.

Ich bin ein konservativer Europäer. Umso mehr empört es mich, dass vor allem die vorgeblich konservativen Gegner Barack Obamas, zu dessen Verehrern ich wahrlich nicht zähle, vor Millionen Fernsehzuschauern dyergestalt daherplappern, und mich erbost   insbesondere der selbstgerechte, pseudoreligiöse Unterton der Behauptung, dass Amerika „exzeptionell“ sei. Amerikas Sonderrolle wird wie eine Gottesgabe dargestellt. Niemand scheint diesen Leuten entgegenzuhalten, dass es biblisch gesehen nur ein auserwähltes Volk gibt, nämlich das jüdische; dass darüber hinaus jedes Land wie auch jedes Individuum spezifische göttliche Berufungen hat, von denen keine über der anderen rangiert; dass drittens die Erbsünde alle Menschen befallen hat.

Angesichts des pseudoreligiösen Charakters dieses Geredes erinnere ich an das Lutherwort vom „fahrenden Platzregen, der „nicht wieder dahin kommt, wo er einmal gewesen ist.“ Luther meinte damit plötzliche Segnung bestimmter geographischer Plätze -- zum Beispiel Deutschlands zur Reformationszeit -- mit Gottes Wort. Das gleiche gilt auch für den weltlichen Bereich. Gott vertraut Nationen besondere Aufgaben an. Aber wir wissen aus dem Alten Testament, dass Gott einer untreuen Nation auch seinen Rücken zuwenden kann.

Nur Toren können bestreiten, dass Amerika im Weltgeschehen zwar einen gewichtigen Auftrag hat aber derweil daheim vom Weg abgekommen ist. Vor den jüngsten Kongresswahlen war viel von Steuern die Rede, viel vom Schrumpfen des Wohlstandes der Amerikaner, viel auch von Arbeitslosigkeit, und dies waren legitime Themen. Aber erstaunlich wenig wurde darüber gesprochen, dass die Vereinigten Staaten die westliche Welt eben nicht nur vor Tyrannei schützten sondern auch in den Morast einer Massenperversion führten, die mit den Idealen von Freiheit und Gleichheit unvereinbar ist: Ich meine den Entzug  des Lebensrechtes ungeborener Kinder.

Seit der Oberste Gerichtshof 1973 die Abtreibung billigte, sind in diesem Land mindestens 70 Millionen Babys in Mutterleib umgebracht worden. Jährlich werden 1,2 Millionen mehr gemeuchelt. Die meisten anderen Demokratien sind diesem Beispiel Amerikas gefolgt und nicht umgekehrt, so wie sie die Leitmacht auch in ihren anderen Verirrungen nachäfften, sei es in der Glorifizierung des Drogenkonsums, sei es indem sie Homosexualität und Ehe zunehmend gleichsetzten und damit die Familie als Schöpfungsordnung in Frage stellten.

Dies alles verleiht dem "American Exceptionalism" einen düsteren Aspekt, denn es mutiert die demokratische Tugend des Individualismus zur Untugend der Ichsucht, und dies schlägt sich allenthalben in der wirtschaftlichen, geistigen, kulturellen und politischen Malaise der USA nieder.

Obama und sein Berater, vorwiegend Veteranen der linksradikalen Szene der Sechzigerjahre, treten vehement für das "Recht" werdender Mütter ein, zwischen Leben und Tod ihrer Leibesfrucht wählen zu dürfen. Der permanente Verstoß gegen das Lebensrecht Millionen Ungeborener war im letzten Wahlkampf aber bestenfalls ein Randthema. Und dies stellt die Verkünder des „American Exceptionalism“ in ein absurdes Licht. Denn es ist vermessen zu glauben, dass Gottes Platzregen auf die Dauer den von immer frischem Blut getränkten Boden fruchtbar halten wird -- in Amerika und anderswo. Um Luther zu paraphrasieren: Platzregen haben es an sich, weiterzufahren.

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