Saturday, May 29, 2010

Fünf Jahre hinter Stacheldraht

Von UWE SIEMON-NETTO

Auf den ersten Blick wirkt Eberhard E. Fuhr wie ein normaler Rentner aus dem Mittleren Westen der USA. Er ist rüstig und wohlhabend, hat Humor und spricht stolz über seine lange Karriere als Direktor eines Großkonzerns. Er freut sich, dass seine drei Kinder, acht Enkel und drei Urenkel gut geraten sind, und genießt seinen Lebensabend in seinem Ranch-Haus in Palatine im Bundesstaat Illinois. Gleichwohl unterscheidet sich Eberhard Fuhr von vielen anderen: „Manchmal“, sagt er, „fühle ich mich hier immer noch als Außenseiter.“

Er kann sich nicht mehr an seinen Geburtsort Wiesdorf erinnern, heute ein Stadtteil von Leverkusen, wo er vor 84 Jahren als Sohn des Bäckergesellen Karl Fuhr und seiner Frau Anna zur Welt kam. Er entsinnt sich auch nicht des Auswandererschiffes, das ihn 1928 nach Amerika brachte; dass er damals einen Matrosenanzug trug wie viele europäische Jungen, weiß er nur von vergilbten Fotos.

Aber ein Vorgang in seinen Jugendjahren hat sich tief in sein Gedächtnis eingegraben: An einem heißen Augustmorgen im Jahr 1942 dringen amerikanische Bundesbeamte in das kleine Backsteinhaus seiner Eltern an der Baymiller Street in Cincinnati ein und nehmen Karl und Anna Fuhr und ihren jüngsten Sohn Gerhard fest. Die USA und Deutschland liegen im Krieg. Elftausend deutsche Einwanderer werden etwa zur gleichen Zeit interniert und Zehntausende mehr zwangsumgesiedelt – weg von den Küsten, weg von strategisch wichtigen Gebieten, aus denen spionageverdächtige Zeitgenossen fernzuhalten sind.


Absurde Fragen

Dass es 82 000 Einwanderern aus Japan und Amerikanern japanischer Abstammung ebenso geht, sollte in den USA später als hässliche Folge von Kriegshysterie bedauert werden; die Opfer werden entschädigt. Auch bei Italoamerikanern entschuldigt sich die Nation für deren rüde Behandlung. Aber über das Schicksal schuldloser Immigranten aus Deutschland schweigen Politiker, Journalisten und Historiker seit mehr als einem halben Jahrhundert. Die meisten Betroffenen sind mittlerweile tot. Eberhard Fuhr jedoch will über die Zeit hinter Stacheldraht nicht den Mund halten, den staatlichen Raub von fünf Jahren seiner Jugend.

Nach der Festnahme der Eltern Fuhr dürfen Eberhard und sein Bruder Julius zunächst noch im Haus an der Baymiller Street wohnen. Eberhard ist 17, Julius 18 Jahre alt. Als Nächstes klopfen Vorsteher ihrer lutherischen Gemeinde an und fordern, dass die beiden Jungen das Kirchgeld zahlen, das der Bäcker Fuhr zwar versprochen hat, aber, weil interniert, nicht aufbringen kann. Eberhard und Julius sind mittellos. Die Gemeinde streicht die Familie Fuhr aus ihrer Mitgliederliste.

Eberhard ist ein Musterschüler an der Woodward High School in Cincinnati, und er ist auch ein Star ihrer Football- und Baseball-Mannschaften. Mitten in seinem zwölften Schuljahr ist es damit vorbei. Die Brüder Fuhr werden in Handschellen zunächst einem Tribunal vorgeführt und mit zum Teil absurden Fragen gelöchert. „Was würden Sie Ihrem deutschen Vetter sagen, wenn dieser in einem deutschen U-Boot den Ohio hinaufgefahren käme und Sie um Unterschlupf bäte?“, will einer der Inquisitoren wissen.

„Der Ohio ist nur 1,20 Meter tief, zu flach für ein U-Boot“, antwortet Eberhard. Diese forsche Aussage wird ihm übel genommen. Er und Julius verbringen die Nacht im Kreisgefängnis. Aus Nachbarzellen grölen Mörder, Räuber und Sittenstrolche: „Wir werden euch fertigmachen, ihr Nazis, Krauts und Hunnen.“ Was am nächsten Tag folgt, wird sich in Eberhard Fuhrs Gedächtnis als „die entwürdigendste Erfahrung meines Lebens“ eingraben. Mit Handschellen aneinander und an ihre eigenen Gürtel gefesselt, werden die beiden auf dem Rücksitz eines FBI-Wagens von Cincinnati nach Chicago gebracht – eine qualvolle Tagesreise. Schnellstraßen wie heute gibt es noch nicht.

Die Brüder wissen nicht, warum sie so behandelt werden. „Unsere Eltern waren fromme Christen. Wir waren vor Hitlers Machtübernahme ausgewandert und hatten nichts mit den Nazis zu schaffen, auch nicht mit nationalsozialistischen Vereinen in den USA. Wenn mein Vater überhaupt politisch dachte, dann trauerte er der Monarchie nach“, sagt Eberhard Fuhr heute.

Die Familie wird in einem Internierungslager in Crystal City in Texas zusammengeführt, einem glutheißen Ort voller Moskitos und Skorpione nahe der mexikanischen Grenze. Kaum wiedervereinigt, erfahren die Fuhrs, dass ihr Haus an der Baymiller Street in Cincinnati ausgeplündert wurde. „Unser gesamter Besitz wurde gestohlen – unser Klavier, meine Geige, unsere Möbel, selbst Familienfotos, deren Verlust meine Mutter nie verwinden sollte.“

Vater Fuhr bittet die Lagerkommandantur von Crystal City um „Urlaub auf Ehrenwort“, auf dass er sein nunmehr leeres Heim absichere. „Aber gern“, lautet die Antwort, „vorausgesetzt, dass Sie für das Gehalt, die Reise, die Unterkunft und Verpflegung von drei bewaffneten Wärtern aufkommen.“ Karl Fuhr hat nie in seinem Leben mehr als 35 Dollar pro Woche verdient. Wie vielen internierten Deutschen wird ihm sein Haus in einer Zwangsvollstreckung weggenommen.

In Crystal City sind deutsche und japanische Immigranten interniert. Die beiden Gruppen vertragen sich gut und spielen zusammen Baseball. Hinter den Stacheldrahtverhauen gibt es einen Bauernhof, auf dem sie Gemüse anbauen, und einen Laden, in dem sie mit einer Sonderwährung für Gefangene einkaufen können; der Besitz echter Dollars ist ihnen verwehrt.

Es gibt auch eine Entbindungsstation, in der sowohl deutsche als auch japanische Kinder geboren werden. „Sie unterscheiden sich allerdings darin, dass die japanischen Babys später für ihre Haft entschädigt werden, die deutschen aber nicht“, berichtet Fuhr. Gibt es auch Nazi-Sympathisanten im Lager? Fuhr beobachtet, wie einige Insassen mit ihren aufgesparten Dünnbierrationen an jedem 20. April Hitlers Geburtstag begehen. Andererseits hört er aber nur selten Sympathiebekundungen für den Nationalsozialismus; zudem werden in Crystal City Deutsche aller Art gefangen gehalten, auch Juden. Sie sind Teil der 4050 Deutschstämmigen aus südamerikanischen Ländern, deren Regierungen sie an die USA ausgeliefert hatten. Diese Hispanodeutschen waren, wie früher afrikanische Sklaven, für die Dauer ihrer Schiffspassage nach Texas in dunklen, feucht-heißen Frachträumen eingesperrt.

Für Eberhard Fuhr ist das Auftauchen der Teuto-Latinos eine gute Sache. Viele hatten ihre Instrumente mitgebracht, ihre lateinamerikanischen Rhythmen gefallen ihm. Mit ihnen kann er auch richtig Fußball spielen, was mit internierten US-Bürgern japanischer Herkunft unmöglich ist. Manchmal beneidet Fuhr deutsche Kriegsgefangene, von denen er hört, dass sie teilweise auf Farmen untergebracht sind und auch ihre Lager verlassen dürfen, was den Immigranten nicht gestattet ist. Aber Crystal City hat für ihn auch eine segensreiche Seite: Hier lernt er seine künftige Frau Barbara kennen, die Tochter eines deutschen Pressekorrespondenten, der sich bei Kriegsausbruch nicht repatriieren ließ, weil er mit einer Amerikanerin verheiratet war. Sie und ihr Kind, beide US-Staatsbürger, waren mit ihm in Gefangenschaft gegangen.

Eberhard und Barbara sollten aber erst lange nach Kriegsende heiraten. Nach der Waffenruhe werden sie auf die Einwandererinsel Ellis Island bei New York verlegt, wo das Leben noch härter ist als in Crystal City. Wie Gefängnisinsassen werden sie nur selten an die frische Luft gelassen. „Das Essen war kaum genießbar“, erinnert sich Fuhr. Erst 1948 werden die letzten internierten Deutschamerikaner aufgrund einer Intervention des republikanischen Senators William Langer auf freien Fuß gesetzt. Sie müssen schwören, nie über ihre Erlebnisse zu sprechen. „Sollten sie diesen Eid verletzen, so wurde ihnen angedroht, müssten sie damit rechnen, deportiert und nie wieder ins Land gelassen zu werden“, sagt Karen E. Ebel, Tochter eines ehemaligen Internierten und Präsidentin des Interessenverbandes „German American Internee Coalition“. Ebel weiter: „Viele haben dieses Geheimnis mit ins Grab genommen. Dem Vernehmen nach wurden auch Lagerangestellte zu diesem Schwur gezwungen.“

Nach ihrer wiedererlangten Freiheit stehen die meisten Internierten vor dem Ruin. Bankkonten sind eingefroren, Immobilien verloren. „Ihre Erniedrigung und Stigmatisierung in den Kriegsjahren hinterlassen tiefe psychologische Wunden“, erinnert sich Fuhr. „Deswegen müssen wir die wenigen Überlebenden ermutigen, ihre Geschichte zu erzählen, ohne sich vor nachteiligen Folgen ängstigen zu müssen. Sie waren keine Kriminellen, sondern schuldlos im Spinngewebe der Kriegshysterie gelandet.“


Lange Aufklärungsarbeit

Karen Ebels Koalition ehemaliger Internierter und ähnliche Organisationen haben in langjähriger Aufklärungsarbeit erreicht, dass sich ein Unterausschuss des US-Repräsentantenhauses im Frühjahr erstmals dieses Themas angenommen hat. Er erörterte die brisante Frage, in welcher Weise „Euroamerikaner, Iberoamerikaner, japanisch-stämmige Lateinamerikaner und jüdische Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg behandelt worden sind“. Über dieses Thema wird es in Zukunft noch viele Anhörungen geben, aber Fuhr bezweifelt, dass deutschamerikanische Opfer der US-Internierungspolitik je entschädigt werden. Er sagt jedoch: „Selbst wenn mir Geld angeboten würde, nähme ich es nicht an. Ich war es ja nicht, der alles verloren hat, sondern mein Vater, und der ist lange tot.“

Eberhard Fuhr kann über den weiteren Verlauf seines Lebens nicht klagen. Mit ihrem Sekretärinnengehalt finanzierte seine Frau Barbara seinen Oberschulabschluss und sein Studium, dem eine steile Managerkarriere folgte. „Wir führten 56 Jahre lang eine wundervolle Ehe. Dann starb Barbara an Krebs“, sagt er.

Fuhr hat Deutschland sechsmal besucht. „Ich habe oft das Gefühl, dass ich eigentlich dorthin gehöre.“ Doch er weiß auch, dass dies für ihn keine Option ist. Er wird in Amerika bleiben, umgeben von seinen Kindern, Enkeln und Urenkeln, aber gleichwohl getrieben von seinen Erinnerungen. Der 84-Jährige betont: „Ich weigere mich, wie Tausende anderer Ex-Internierter die Scham in mich hineinzufressen.“ Fuhr sagt: „In diesem Punkt bleibe ich eisern: Ich rede!“

© Rheinischer Merkur Nr. 25, 18.06.200

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