Saturday, May 29, 2010

Frachter-Reise: Sachte Fahrt zurück in die Zukunft

Von UWE SIEMON-NETTO

Kapitän Jürgen Langer und ich saßen auf dem weitläufigen Bugspoiler, der auf dem Hamburger Containerschiff „MSC Alessia“ die Ankerwinden überdacht. Savannah im US-Bundesstaat Georgia lag drei Tage hinter uns, Antwerpen acht Tage vor uns. Unser 75.000 BRT schwerer Frachter rollte sachte im Ozean, dessen Weite ich nach Jahrzehnten transatlantischen Vagabundierens endlich wiederentdeckte. Wir hörten die Gischt aber keinen Ton aus der Zehn-Zylinder-Maschine, die hinter uns tief im Bauch des Schiffes drei Etagen ausfüllte und eine amüsante Eigenschaft hatte: Sie war ein Zweitakter -- ein Meeres-Trabi!


In zehn Kilometer Höhe zog ein Jumbo auf dem Weg nach Amerika über uns hinweg. Wie aus einem Mund entfuhr es uns: „Diese armen Leute!“ Dort oben saßen Fluggäste in qualvoller Enge, und hier war ich, Mieter einer 30 Quadratmeter großen Suite mit Wohn-, Schlaf- und Badezimmer auf dem „F“-Deck der „Alessia“. Die da oben dürften gerade mit Plastikgabeln ein garstiges Gericht in sich hineingeschaufelt haben; ich aber hatte an diesem Tag schon solide deutsche Hausmannskost zu mir genommen, serviert in der Offiziersmesse von einem philippinischer Steward mit dem priesterlichen Namen Melchizedek: zum Frühstück ein Steak Tartar, mittags Roastbeef mit Bratkartoffeln, frischem Gemüse, Salat und Obst. Mich schauderte es beim Gedanken an den Mief, den ich bei jedem Flug als Marter empfinde, und füllte genüßlich meine Lungen mit Seeluft. Manche Fluggäste brauchen Tage, um den Jetlag zu überwinden. Ich hingegen merkte gar nicht, wie sechs Zeitzonen an mir vorbeischlichen, und war am Ende so entspannt, dass meine Freunde mir sagten, sie hätten mich noch nie so gutmütig erlebt.


Will ich hier Neid erregen? Ja, aber in Grenzen. Frachter-Reisen sind nicht jedermanns Plaisir. Gewiss, es gibt Zeitgenossen, die den sogar größten Teil ihres Ruhestandes auf solchen Schiffen verbringen, weil dies bei einem Tagestarif von 100 Euro, drei üppige Mahlzeiten einbegriffen, billiger und unterhaltsamer ist als das Leben in den gepflegtesten Altersheimen, selbst wenn noch die eine oder andere Gebühr hinzukommt. Aber Frachter sind keine Musikdampfer. Hier gibt es keine bunten Cocktails mit Papierschirmen, sondern zollfreien Whisky für neun Euro die Literflasche.


Hier wird auch kein Kabarett geboten und auch kein Tanz. Wer Ohren hat, der ergötze sich stattdessen am Garn von Seeleuten, die vor Afrika mit Leuchtgeschossen barfüßige Piraten vom Schiffsdeck verscheucht hatten oder die Trinkfestigkeit eines greisen Passagierpaars bewunderten, das auf einer 42-Tage-Fahrt von Antwerpen nach Vera Cruz in Mexiko und zurück 84 Flaschen Rotwein, 240 Flaschen Beck’s-Bier und 24 Flaschen Baillie schluckte und gleichwohl sicher diesseits der Reling verharrte.


Kein Kreuzfahrt-Ringelpietz hat für mich denn auch annähernd den Unterhaltungswert von Schnurren wie jener, die ich beim Bier an der Bar der „MSC Alessia“ hörte. Sie handelte von einem Bordingenieur aus Dessau, der sich in seiner Kabine einen hochintelligenten Schoßfisch hielt, einen Aruwana aus indonesischen Gewässern, der Colombo hieß und von seinem Herrn handgereichte Schinken- und Käsestücke entgegennahm. Eines Tages hopste das Tier aus seinem Aquarium. Der Ingenieur warf es wieder hinein; aber es hopste sofort wieder heraus, bis der Offizier begriff, was Colombo wollte: eine Weile auf dem Schoß gehalten und gekrault zu werden.


Auf einem Containerschiff findet sich zudem niemand, der einem das Badezimmer schrubbt oder die Unterhosen siedet; letzteres muss der Fahrgast selber in Gesellschaft deutscher Offiziere oder philippinischer Matrosen in der Bordwäscherei erledigen. Nein, wer so reisen will, muss Bücher mögen und sich vom Alltag in der fremden Welt der Handelsschiffahrt faszinieren lassen; er muss über Ehrfurcht vor der Arbeit anderer verfügen: Nie in meinem 51 Journalistenjahren habe ich Spannenderes erlebt, als vor dem Antwerpener Containerhafen neben Kapitän Langer auf der Außenbrücke zu stehen, während er, von zwei Lotsen beraten, diesen fetten, 300 Meter langen Pott mit Hilfe zweier winziger Hebel in eine enge Schleuse steuerte. „Das ist so einfach wie Autofahren“, sagte er ausgerechnet mir, dem doch schon der eigene Audi manchmal zu klobig vorkommt.


Und noch etwas anderes gehört dazu, auf einem der 3.500 Containerschiffe zu reisen, die derzeit die Weltmeere durchpflügen und jeweils maximal zwölf Passagiere mitnehmen können – nicht mehr, weil sonst ein Arzt mitfahren müsste: Geduld ist vonnöten, wobei ich nicht das gemächliche Tempo von 25 Knoten meine, denn darin liegt ja gerade der Reiz dieses Abenteuers. Nein, das Widersprüchliche an diesen Transportern der Globalisierung ist gerade, dass sie den postmodernen Menschen gleichzeitig in die Zukunft und in die Vergangenheit befördern, und zwar manchmal mit einer Gelassenheit, die letzterer zueigen war.


Auf meinem Decksessel an Bord der „MSC Alessia“ las ich in einer Biographie von John Adams (1735-1926), dass dieser reiselustige zweite Präsident der USA bis zu drei Monate eines Seglers harrte, der ihn über den Atlantik bringen sollte. Meiner Frau und mir ging’s ähnlich: Die „MSC Alessia“ fuhr zwölf Tage später als vorgesehen aus Savannah ab. Wie wohl einst Adams beim Auftauchen seines Clippers so jubelten auch wir, als wir morgens aus unserem Hotelzimmer auf den alten Baumwollhafen blickten und dort plötzlich die flussaufwärts gleitende „MSC Alessia“ turmhoch die alten Baumwollkontore überragte. Einige Stunden später stiegen wir die 48 Stufen ihrer Gangway hinauf, während ein 1,97 Meter großer vierter Offizier leichtfüßig unsere schweren Koffer an Bord brachte.


Containertransporte sind in Europa eine überwiegend deutsche Angelegenheit, wobei die „Niederelbe Schiffahrtsgesellschaft Buxtehude“ (NSB) zu den Branchenführern gehört. Sie bereedert die „Alessia“ und rund 100 ähnliche Frachter. Ein Sprecher des NSB-Reisebüros versicherte mir, dass diese im allgemeinen pünktlich seien. Dass dies bei der „ Alessia“ nicht der Fall war, lag augenscheinlich an dem Charterer, einem in Genf ansässigen Konzern namens „Mediterranean Shipping Company S.A.“ (MSC). Dieser nun gestaltet nach Aussagen eines seiner amerikanischen Hafenagenten seine Fahrpläne zuweilen „auf eigenwillige Weise“—also womöglich ein wenig nach Lumpensammlerart; wenn hier oder da noch zusätzliche Container abzuholen sind, wieso nicht? Der Gedanke, daß sich ein in Deutschland zugelassenes Schiff, dessen Bau 80 Millionen Euro gekostet hatte und dessen Ladung bis zu zehn mal so viel wert war, auch schon mal verspäten kann wie ein mittelamerikanischer Omnibus, ist eine putzige Erkenntnis.


An dieser Reise habe ich festgestellt, dass die Globalisierung, die ja ohne solche Seegiganten gar nicht funktionieren könnte, auch ihren Charme für Nostalgiker hat. Wo sonst kann ich mich per Internet in eine Lebensituation hineinbuchen, von der die meisten Zeitgenossen gar nicht wissen, dass es sie noch gibt? Wo sonst kann ich elf Tage lang Teil einer winzigen wohlgeordneten Gemeinschaft von 27 Menschen sein, die weit draußen auf dem Atlantik ein überaus nützliches Dasein ohne Fernsehen, Handy und, jawohl, das Internet fristet?


Wo sonst höre Geschichten, die an eine scheinbar ferne Vergangenheit erinnern – Geschichten wie jene von der betagten Kommanditistin eines Containerschiffs, die jedes Jahr vorübergehend ihr Altersheim verlässt und mit acht schweren Koffern einen Frachter besteigt, um einfach einmal sechs Wochen lang nach Väter Art Asien oder Südamerika zu bereisen? Wozu braucht sie acht Koffer? Weil sie ihr gesamtes Teeservice mitbringt, auf dass sie die Offiziere in ihrer Suite standesgemäß bewirte.


Wer nun meint, dies sei eine Mär von schwimmenden Seniorenresidenzen, der irrt. Von Savannah über Charleston bis Antwerpen schwärmten Lotsen über drei taufrische Französinnen und eine liebreizende Irin, die sie bei früheren Besuchen der „MSC Alessia“ auf deren Brücke bezaubert hatten. Nun, ich bin ein alter Knabe, dem solche Freuden nicht vergönnt waren. Aber als ich in Antwerpen von Bord ging, sagte mir meine Frau, so gutartig wie diesmal hätte ich noch nach keiner meiner zahllosen Atlantik-Überquerungen gegrinst. Will heißen: Es gibt eine Alternative zu den vielen Demütigungen des Fliegens. Ich werde diese Alternative wieder nutzen.


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