Saturday, May 29, 2010

Das fränkisch gerollte "R" wird selten


Von UWE SIEMON-NETTO

Lutheraner leben mit Gegensätzen; sie sind es gewohnt. Deshalb nimmt es nicht wunder, dass die lutherischste Kleinstadt Amerikas auf den ersten Blick merkwürdig katholisch wirkt. Der Fremde reibt sich die Augen, wenn er von Süden nach Frankenmuth in Michigan fährt, dessen Gründer, der Pfarrer Wilhelm Löhe, vor 200 Jahren in Fürth geboren wurde: Steht da nicht die achteckige St.-Nikolaus-Kirche aus Oberndorf bei Salzburg, Wiege des Weihnachtslieds „Stille Nacht“?

So ist es. Dies ist ein genauer Nachbau, mit dem sich Wally Bronner bei Gott für den Erfolg seines Geschäfts bedankte, des größten Weihnachts-Supermarktes der Welt mit einer Ladenfläche von der Größe zweier Fußballplätze. Hier wieselt der 80 Jahre alte Wally – im knallroten Blazer – zwischen den 50000 Artikeln in seinem Sortiment umher und spaßt mit Kunden aus allen Ländern. Über zwei Millionen kommen jedes Jahr zu „Bronner's Christmas Wonderland“, wo sie gleich am Südeingang zweimal stündlich ein künstliches Schneegestöber begrüßt, bevor sie sich an einem Wald blinkender Weihnachtsbäume ergötzen, an Herden von Plüschtieren, 500 verschiedenen Krippenszenen und fünf Meter großen Weihnachtsmännern aus Plastik, die bis zu 7000 Dollar kosten.

Am Heiligabend folgen viele hundert Kunden Wally zu seinem Kirchlein, vorbei an einem Spalier von 300 Schildern, mit Strophen von „Stille Nacht“ in 300 Sprachen. Vor dem Altar, den Porträts des Oberndorfer Pfarrers Joseph Mohr und seines Organisten Franz Xaver Gruber flankieren, des Dichters und des Komponisten von „Stille Nacht“, stimmt Wally das berühmteste Weihnachtslied der Welt an, und alle singen mit.

Weiter stadteinwärts bleibt der Baustil vorläufig alpin, zum Beispiel die Architektur des „Bavarian Inn“, das – ebenso wie das gegenüberliegende Hühnerlokal „Zehnder“ – zu den zehn größten Restaurants in Amerika gehört. Mag dies auch nicht so recht zu den mittelfränkischen Wurzeln dieser adretten Stadt passen, so hat es doch seine kommerzielle Logik, wie Lokalhistoriker David Maves erklärt. Amerikaner assoziieren eben alles Deutsche mit Krachledernen, Jodeln und Umpapa, und Tourismus ist nun einmal Frankenmuths Hauptindustrie.


Vier Gottesdienste nacheinander

Die wahre, fränkische, lutherische Seele Frankenmuths offenbart sich einige Schritte weiter in der St.-Lorenz-Kirche, zu deren größten Stützen Wally Bronner und sein Clan gehören, und auch die Wirtedynastie Zehnder, Besitzer des Hühnerlokals wie des „Bavarian Inn“. In diesem riesigen Backsteinbau wird's dem deutschen Gast beim Sonntagsgottesdienst um 9.30 Uhr warm ums Herz. Mehr als tausend Menschen füllen das Kirchenschiff und die Emporen, und dies ist bereits der dritte Gottesdienst an diesem Wochenende. Ihm wird noch ein vierter folgen.

Die 50-Register-Orgel röhrt. Fröhlich schmettern Männer mit wuchtigen quadratischen Köpfen und stattliche fränkische Frauen Luthers Adventschoral „Nun komm, der Heiden Heiland“.

Während einer der fünf St.-Lorenz-Pfarrer von einer weißen Holzkanzel hoch über den Köpfen der Gemeinde geschliffen predigt, wandert der Blick. Im vordersten Kirchenfenster rechts sind Luther und Melanchthon abgebildet; gegenüber, auf der linken Seite, sind Löhe und der erste Pfarrer von Frankenmuth, August Friedrich Crämer, zu erkennen.

Dass sich Löhe 1852 in einem Zwist über die Amtsfrage von dieser Gemeinde losgesagt hatte – und damit auch von der glaubensstrengen Missouri-Synode, zu deren Gründern sie gehörte –, wird ihm hier nicht nachgetragen. Die Missouri-Kirche verehrt den Dorfpfarrer von Neuendettelsau als einen ihrer Väter, einen übrigens, der nie in Amerika war, sondern seine dortige Mission per Korrespondenz gesteuert hatte. Aber er war es nun einmal, der, einem „Notruf“ des Pfarrers Friedrich Wynecken folgend, Kolonisten in die USA schickte, wo damals laut Wynecken nur 400 Pfarrer 1200 lutherische Gemeinden betreuten, die „nach dem kräftigen Brot des Evangeliums hungerten“. Löhe hatte sich gedacht, wenn die von ihm entsandten mittelfränkischen Siedler im Urwald von Michigan nur ein vorbildliches christliches Leben führten, dann würden sich die dortigen Chippewa-Indianer, tief beeindruckt, zum Christentum bekehren.


Indianer wohnten beim Pfarrer

Binnen eines Jahres nach ihrer Ankunft 1845 ließen sich 23 Chippewa taufen, und 30 Indianerkinder wohnten in der Blockhütte des Pfarrers Crämer. Aber die Chippewa waren Nomaden; sie wanderten weiter, was ihnen langfristig finanziell gut bekam. Da sie in ihren autonomen Reservaten Spielbanken gründen durften, die sonst in Michigan verboten sind, wurden manche von ihnen ziemlich reich. Frankenmuth und seine kleineren Nachbargemeinden Frankenhilf, Frankenlust und Frankentrost – auch sie Löhe-Gründungen – erwiesen sich als ein Segen vor allem für die Missouri-Synode (LCMS), die zweitgrößte lutherische Glaubensgemeinschaft in den USA. In anderthalb Jahrhunderten ließen sich über 500 junge Männer aus diesen Ortschaften zu LCMS-Pfarrern ausbilden.

Befragt man den St.-Lorenz-Hauptpfarrer Mark Brandt über die Glaubenslage in Frankenmuth, so klagt auch er: „Als ich vor 17 Jahren hierher versetzt wurde, kamen noch 2000 unserer 4700 Gemeindeglieder mindestens einmal in der Woche zum Gottesdienst; heute lassen sich nur noch 1700 regelmäßig blicken.“

Tatsächlich trifft auf Frankenmuth der Aphorismus des Fernsehkomikers Garrison Keillor zu: „Im Mittelwesten ist genau genommen jeder ein Lutheraner. Sogar die Atheisten sind Lutheraner. Der Gott, an den sie nicht glauben, ist der Gott Luthers.“

Auch einige Katholiken sind zugezogen. Als sie 1963 ihre Gemeinde gründeten, fragten sie Vorstandsmitglieder von St. Lorenz: „Wie sollen wir unser Kirche nennen?“ Die Antwort lautete „Blessed Trinity“ (Gesegnete Dreifaltigkeit). Und so kommt's, dass Frankenmuth nun ein katholisches Gotteshaus besitzt, hinter dessen Namen Kenner der konfessionellen Szene in den USA sofort eine Missouri-lutherische Gemeinde wähnen.

Käme der Religionssoziologe Max Weber heute nach Frankenmuth, würde er hier seine Thesen über die Internalisierung von Glaubenssätzen bestätigt finden. Diese Stadt, die eine der ältesten und größten lutherischen Parochialschulen in den USA besitzt, schickt prozentual mehr Oberschulabsolventen auf die Universität als alle anderen amerikanischen Gemeinwesen, nämlich 98 Prozent. Sie hat eine der geringsten Scheidungsquoten, verfügt über die tüchtigsten Handwerker und ist so sauber und sicher, dass vermögende Ruheständler aus Detroit, Saginaw und Flint mit Vorliebe ins weihnachtliche Frankenmuth ziehen.

Kriminalität ist fast unbekannt. „Aber Vorsicht!“, warnt Brandt, „auch bei uns gibt's Sünde.“ Zum Beispiel? „Trunkenheit.“ Nun gut, dies ist ein Ort deutscher Lutheraner, und deutsche Lutheraner saufen. Das weiß jeder in Amerika.


Treffen im Bavarian Inn

Nur in einem Punkt verliert sich der ursprüngliche Charakter von Frankenmuth: Die Jugend spricht den fränkischen Dialekt mit seinem rollenden R kaum noch, obwohl Deutsch an der lutherischen Grundschule noch Pflichtfach ist, weil ja Wilhelm Löhe seinen Kolonisten auferlegt hatte, ihre Muttersprache zu pflegen. Zwar kommen immer noch jährlich 300 Menschen zum Frankentreffen im „Bavarian Inn“, wo bei dieser Gelegenheit kein Wort Englisch gesprochen werden darf. „Kaum noch einer kann Fränkisch“, moniert Maves. Wie verständigen sie sich dann? „Auf Hochdeutsch.“


© Rheinischer Merkur Nr. 51, 20.12.2007


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