Saturday, May 29, 2010

Rohöl und Ricken

Von UWE SIEMON-NETTO

Von einem Baum neben Bischof Vernon Rabers Haus hängt eine tote Ricke. Sein Sohn Caleb hat das Reh frühmorgens mit Pfeil und Bogen erlegt. Vielleicht wird es der Weihnachtsbraten der Familie Raber sein, vielleicht auch nicht. „Zu Weihnachten konzentrieren wir uns auf Christus“, sagtRaber, der einer 110-köpfigen Amish-Gemeinde vorsteht. „Über das, was auf den Tisch kommt, zerbrechen wir uns nicht lange vorher den Kopf.“ Einen Christbaum gibt es bei ihnen sowieso nicht; das gilt bei ihnen als altgermanische Heidensitte.
Ein Besuch im Advent bei den Amish in Flat Rock, Illinois, gestaltet sich zur Exkursion in eine surreale Welt. Äußerlich sind sie Alemannen, die meisten mit massiven, runden Bauernköpfen. Sie leben in einer fernen Vergangenheit ohne Autos, Starkstrom und Fernsehen; ihre Fahrzeuge sind schwarze Pferdekutschen.

Andererseits ist auch das 21. Jahrhundert bei ihnen präsent. Auf ihren Ländereien nicken Erdölpumpen mit ehernen Hammerhäuptern. Einige stehen zwischen Rabers 20 Teichen, in denen er Fische züchtet, die in Tanklastern an ferne Sportanglerzentren geliefert werden. Lokale Firmen fördern das schwarze Gold der Amish und zahlen ihnen Tantiemen. Das Erdgas benutzen sie allerdings selber für ihre Pumpen und Schwachstromgeneratoren.

Seltsamer noch ist ihre Sprache, Pennsylvania-Deutsch, ein Gemisch aus Englisch und Deutsch, das mehrere Jahrhunderte überspannt. Sie „schwätzen“ (ihr Ausdruck) nach süddeutscher Art wie ihre täuferischen Vorfahren, die um 1730 nach Pennsylvanien eingewandert sind. Alles scheint bestens geordnet in ihren geräumigen Häusern – geräumig, weil jedes groß genug sein muss, die ganze Gemeinde zum Gottesdienst aufzunehmen; eigene Kirchen haben die Amish nicht.

Die Rabers und ihre Gruppe hatten im Herbst bereits ein Dutzend Rehe geschossen, 30 Schweine geschlachtet, 1000 Würste gemacht, Zentner von Obst und Gemüse aus eigenen Gärten und Feldern eingeweckt. Ihre Speisekammern und mit Gasaggregaten gekühlten Keller sind voll – könnte so ein Zukunftsprogramm für die ganze Nation aussehen? Für immer mehr Amerikaner künftiger Generationen mag dies der Fall sein, denn die Amish –- und hier sind nur die echten gemeint, jene mit Pferd und Wagen, und nicht solche, die wie sie aussehen, aber Auto fahren – sind die am schnellsten wachsende Minderheit in den USA. Alle 20 Jahre verdoppelt sich ihre Zahl. Sie sind bereits über 28 Bundesstaaten verteilt und breiten sich weiter aus, meist als Landwirte, Handwerker und Krämer. 1910 gab es 10 000. Übernächstes Jahr werden sie die Viertelmillion erreichen.

Das liegt daran, dass jede Familie im Schnitt sieben Kinder hat. Aber manchmal stoßen auch Konvertiten zu ihrer simplen Idylle unter Gaslampen, will heißen: Sie bekehren sich zu einem Weltbild, in dem es, lutherisch gesprochen, keine Koexistenz des weltlichen „Reichs zur Linken“ mit dem geistlichen „Reich zur Rechten“ gibt.

„Für uns gilt das Jesus-Wort: ‚Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet‘ (Matthäus 7,1–2)“, sagt Raber, der nie Theologie studiert hat und mittels Losen, die aus einem Gesangbuch heraushingen, zum Bischof auf Lebenszeit gewählt worden ist. „Wir sagen nicht, dass andere Christen in die Hölle kommen. Aber wir kennen nur ein Reich, dessen ausschließliche Bürger wir sind – das Reich Christi.“ Deshalb beteiligen sich die Amish kaum an weltlichen Dingen. Sie nehmen an keinem Urnengang teil. Dass Barack Obama am 4. November zum nächsten Präsidenten gewählt wurde, erfuhr der 48 Jahre alte Raber übers Telefon. Diesen Minimalkontakt zur Außenwelt gönnt er sich.

Sogar eines der schwersten Sozialprobleme der USA berührt sie nicht direkt – die Existenz von 40 Millionen Bürgern ohne Krankenversicherung, obwohl die Amish eigentlich selbst zu diesen gehören. Sie zahlen weder in Krankenkassen noch in die Sozialversicherung ein, weil dies einem Mangel an Gottvertrauen gleichkäme. Es verstieße gegen das Bibelwort: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Galater 6,2).

„Fünf meiner Gemeindemitglieder mussten gerade operiert werden. Das kostete insgesamt 90 000 Dollar“, erzählt Raber. „Da schrieb ein Diakon ein paar Briefe an die Brüder, und schon ist das Geld da. Wenn unsere Gruppe das nicht geschafft hätte, wären andere Gemeinden eingesprungen.“ Raber stößt den Deutschen neben ihm auf dem Kutscherbock vergnügt in die Rippen. „Das ist doch billiger als Krankenkassen, oder?“ Freilich achten die Amish darauf, dass sie von klein auf gesund leben.

Raber geht zur Schule seiner Gemeinde. Dort sitzen in drei hellen Klassenzimmern je acht Jungen und Mädchen, alle mit frischen Gesichtern und durchtrainierten Körpern. Wenn dies Amerikas Zukunft sein sollte, sieht sie anders aus als im übrigen Land: Keines dieser Kinder ist übergewichtig.


Ihnen sind nur acht Schuljahre vergönnt. Sie lernen Lesen, Schreiben, Rechnen, Deutsch und Bibelkunde und nicht viel mehr. Gleichwohl ist bei ihrem Anblick der Kontrast zu großen Horrorklassen in den Schulen vieler Industrieländer augenfällig. Bei den Amish gehen die Lehrerinnen – auch sie nur Absolventinnen solcher Dorfschulen – von Pult zu Pult und knien neben ihren Schülern nieder, um ihnen auf gleicher Augenhöhe zum Beispiel eine deutsche Vokabel zu erklären, eine Neid erregende Szene.

Am Samstagabend fährt hinter Rabers Haus ein Traktor mit Anhänger vor. Bänke ohne Rücklehnen und ein Lesepult werden in seinen Keller getragen. Am folgenden Morgen kommt die Gemeinde in Kutschen. Die Männer tragen schlichte Anzüge mit Haken und Ösen anstelle von Knöpfen, die bei den Amish als Tand gelten. In der Kellerkirche gibt jeder jedem den „heiligen Kuss“ (Römer 16,16) auf die Lippen. Dann setzen sich die Männer auf die Bänke links vor dem Pult, die Frauen nehmen rechts Platz.

Nun singt ein Bass laut auf Deutsch das erste Wort des Täuferchorals „O Herre, in deinem Thron“; die anderen fallen a cappella ein, kraftvoll, vierstimmig, langsam, 22 Strophen lang. So muss es geklungen haben, als gefangene und gepeinigte Täufer zwischen 1535 und 1540 auf der Feste Oberhaus bei Passau diese Hymnen erstmals sangen; Weisen, die im „Ausbund“ gesammelt sind, einem der ganz frühen großen geistlichen Liederbücher der Welt, erstmals anonym gedruckt im Jahr 1564, später, illegal, in Köln. Die 45. Auflage erschien 2002 im Lancaster County. Dann folgt eine einstündige Predigt über den 107. Psalm auf Pennsylvania-Deutsch: „The Word of God isch do fier uns.“ Hernach knien alle singend auf dem Betonboden: „Gott Vater, wir loben dich.“ Der nächste Prediger legt 90 Minuten lang das Buch Daniel im alemannischen Dialekt aus. Lutherbibelgewohnte Gäste können nur teilweise folgen. Noch einmal knien und beten sie. Danach passiert etwas, das in Amish-Gemeinden selten geschieht.

Bischof Raber trägt alle 48 Verse des 19. Kapitels aus dem Lukas-Evangelium in der ursprünglichen Übersetzung Martin Luthers vor, angefangen mit der Geschichte des Zöllners Zachäus bis hin zu Jesu Tempelreinigung; das ist ein normaler Vorgang. Dann aber bittet er einen Lutheraner aus Deutschland, die letzten Verse dieses Textes aus seiner eigenen, revidierten Lutherbibel vorzulesen. Jetzt ist es an den Amish, perplex zu sein: „istum sogscht du ‚Räuberhöhle‘? Do schtäht ‚Mördergrube‘!“ Ja, tatsächlich, hier hat sich Luther geirrt; im griechischen Urtext heißt es halt „Räuberhöhle“ (Lukas 19,46). Einer schüttelt den Kopf: So etwas sagt ausgerechnet ein Lutheraner!


Nach dem vierstündigen Gottesdienst wird Hausmannskost aufgetragen. Zum Abschied erzählt Raber, dass die Häuser vieler Glaubensbrüder – aber nicht sein eigenes – Stromleitungen besäßen, allerdings nicht ans Netz angeschlossen seien: „Weißt du, der Tag naht, an dem mehrere Familien ihre Häuser an andere Amerikaner verkaufen müssen, weil sie ausgesandt werden, in der Ferne neue Gemeinden zu gründen.“

Wie werden diese Gemeindegründer reisen – doch nicht etwa mit ihren Kutschen? Nein, die Amish sind bekannt dafür, dass sie gern Taxen und Kleinbusse mieten, gesteuert von Andersgläubigen. Sie tun das so häufig, dass unter ihnen der Spruch die Runde macht: „Wenn wir weiter wachsen wir bisher, wird dereinst eine Hälfte der Menschheit aus Amish bestehen und die andere Hälfte aus Taxifahrern.“


© Rheinischer Merkur Nr. 9, 26.02.2009

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