Saturday, May 29, 2010

Als wir Kinder Bombenziele wurden

Von UWE SIEMON-NETTO

Als der Krieg anfing, waren wir noch Knirpse – Gillian in Southampton und ich in Leipzig. Seltsam, aber wir entsinnen uns beide genau jenes 3.Septembers 1939, eines milden Spätsommertages. Ich war drei Jahre alt und trug meinen Sonntagsstaat, einen Leinenanzug und darunter ein Hemd mit Rüschen. Wir waren kurz zuvor von den Ferien in Swinemünde zurückgekehrt. Ich hatte am Ostseestrand auf den Schultern des Londoner Baptistenpastors William A. Ashby reiten dürfen. Später erfuhr ich, dass dieser liebenswerte Brite als „Friedensstifter“ nach Deutschland gekommen war.
Wir wohnten in der Leipziger Innenstadt. Mein Vater war hier Staatsanwalt für Jugenddelikte. Während auf unserer Loggia Kaffee und Quarktorte aufgetragen wurden, kam er mit steinerner Miene aus dem Herrenzimmer und sagte: „Die BBC meldet, dass wir jetzt im Krieg liegen.“ Mein Vater war ein Norddeutscher. Er bewunderte England sehr.

Meine Mutter, 18 Jahre jünger als er, zeigte auf eine Vase, die vor ihr auf dem Tisch stand, und versuchte ihn aufzuheitern: „Ach, Karl-Heinz, solange wir noch so schöne Blumen haben …“ Mein Vater schüttelte grimmig den Kopf. Er konnte die Blumen nicht sehen. Er hatte als 18-jähriger Offiziersanwärter im Ersten Weltkrieg durch Granatsplitter sein Augenlicht verloren.

Ich wurde weggeschickt, um mich umzuziehen und dann unten, auf dem Sophienplatz, unter der Aufsicht meines Kindermädchens mit meinem Tretauto zu spielen. Es war feuerwehrrot. Ich weiß noch, dass ich wiederholt fragend hinauf in den völlig wolkenlosen Himmel blickte: Ob wohl gleich englische Flugzeuge auftauchen würden? Sie kamen vier Jahre später.

Etwa zur gleichen Zeit fuhr 1000 Kilometer westlich von Leipzig ein kleines Mädchen mit dichtem braunem Haar in einem ebenfalls roten Tretauto auf dem Bürgersteig der Brownell Avenue in Southampton. Das war Gillian. Später sollten wir feststellen, dass wir mehr Gemeinsamkeiten hatten als nur unser Lieblingsspielzeug. Unsere Mütter waren zum Beispiel beide Berufsmusikerinnen mit einem Faible für Bach; Gillians Mutter war Pianistin, meine Sängerin.

Plötzlich eilte Gillians Mutter aus ihrem Haus. „Krieg!“, rief sie und zog das weinende Kind nach innen. Gillians Eltern wussten, was kommen würde. Ihr Vater, Sidney, hatte eine leitende Position bei den Flugzeugwerken Folland Aircraft, die unter anderem Flugboote fürs Militär bauten.

In Leipzig kehrte ich derweil in unsere Wohnung zurück, um vor dem Abendessen gebadet zu werden. Aber meine Mutter hatte die Wanne bis zum Rand mit Wasser gefüllt für den Fall, dass britische Bomber in jener Nacht angreifen sollten. Auch in Southampton bereitete sich die Familie Ackers am nächsten Morgen auf Bombardements vor. Sie ließ in ihrem Garten einen Unterstand ausheben und mit Wellblech überdachen. „Auf dem nackten Erdboden wurden zwei Stockbetten aufgestellt“, berichtet Gillian.

Bei uns in der Leipziger Innenstadt wurden ebenfalls Stockbetten montiert, und zwar unten im Keller zwischen den Kartoffel- und den Kohleabteilen. Dort sollte ich meine letzte Nacht am Sophienplatz 6 verbringen, bevor grüne Flammen, von Phosphorbomben verursacht, dieses Etagenhaus aus der Gründerzeit verschlangen. Dies sollte allerdings erst viel später passieren.

Zunächst wurde Gillian ein Bombenziel, während wir in Leipzig noch wenig vom Krieg spürten, außer dass immer mehr Nachbarn und Freunde verschwanden. Ich war zu jung, die Flucht oder Festnahme jüdischer Freunde und Verwandter mitzuerleben. Aber die Väter und älteren Brüder meiner Spielkameraden fielen an der Front, die jedoch weit weg war.

Bei Gillian war das anders. Im Juni 1940 ging sie mit ihrem Vater, nunmehr Hauptmann in der Territorialarmee, am Solentufer spazieren; der Solent ist die Meeresenge zwischen Southampton und der Insel Wight. „Hunderte von Schiffen und Booten verstopften dieses Gewässer“, berichtet sie jetzt. „Sie brachten britische Soldaten nach der verlorenen Schlacht von Dünkirchen in ihre Heimat zurück.“

Es dauerte nicht lange, da wurde Southampton das wichtigste Angriffsziel des Blitzkriegs der Luftwaffe. Über 1500-mal heulten in dieser Hafenstadt die Sirenen. Bei einem der ersten Bombardements wurde das Haus der Familie Ackers getroffen. Gillians Eltern beschlossen, sie zu Verwandten in den USA zu evakuieren, doch das erwies sich als ein kurzlebiger Plan.

Gillian erzählt heute: „Ich stand in meiner dunkelblauen Schuluniform mit anderen Kindern auf dem Perron des Bahnhofs von Southampton. Wir warteten auf den Zug, der uns zum Dampfer bringen sollte. Plötzlich zwängte sich mein Vater durch die Gruppe von Kindern, griff mich und warf mich über seine Schultern. Er sagte: ,Nein, ich lass dich nicht fahren! Entweder leben wir zusammen, oder wir sterben zusammen.‘“

Wie oft habe ich im Herzen Sidney Ackers für diese Intervention gedankt, ohne die ich Gillian nie kennengelernt hätte! Ein deutsches Torpedo versenkte das Passagierschiff, das sie über den Atlantik hätte bringen sollen; alle Kinder an Bord ertranken.

„Entweder leben wir zusammen, oder wir sterben zusammen.“ Dieselben Worte hörte auch ich, als meine Zeit kam, während des Luftkrieges gegen Leipzig evakuiert zu werden. Ich wurde in eine sächsische Landpfarre geschickt, deren Hausherr ein fanatischer Nationalsozialist war und mich jeden Tag schlug, weil ich mich nach Leipziger Bürgersitte „welscher Wörter“ bediente, also Etage, Soße und Serviette sagte statt Stockwerk, Tunke und Mundtuch.

„Entweder leben wir zusammen, oder wir sterben zusammen“, dekretierte meine Großmutter Netto zornig, als ich ihr mein Leben in der Landpfarre schilderte. Clara Netto war eine willensstarke, humorvolle und fromme Dame. Sie war das eigentliche Oberhaupt unserer Familie. In ihrer Wohnung hatten meine Eltern Zuflucht gefunden, nachdem unsere Wohnung am Sophienplatz beim ersten massiven britischen Luftangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 ausgebrannt war.

Dieser Angriff ist mir so stark im Gedächtnis, als wäre er gestern geschehen. Die Sirenen waren noch nicht verstummt, da fielen schon die ersten Bomben. Mit unserem Notgepäck, das im Korridor parat stand, eilten wir in den Keller, und kurz darauf brannte das Haus. „Bring Vati zur Omi“, wies meine Mutter mich an, bevor sie versuchte, die Flammen zu löschen – ein sinnloses Unterfangen, weil Phosphor gegen Wasser immun ist.

Pfützen grün flackernder Phosphorflammen bedeckten die Straßen bis hin zu Clara Nettos Wohnung, die fast zwei Kilometer entfernt war. Drachengleich spuckten die Nachbarhäuser Flammen in den Winterhimmel. Ich war damals sieben Jahre alt. Wenn ich heute an diese Szene zurückdenke, muss ich wohl ein typisch Leipziger „Griewatsch“ – ein Lausejunge – mit einem verbogenen Humor gewesen sein. Ich weiß noch, dass ich immer wieder wie ein Verrückter auflachte, wenn ich über eine Phosphorpfütze hopsen musste, während mein blinder Vater sich an meinem rechten Oberarm festkrallte.

„Spring, Vati, spring weit“, rief ich. Wir kamen an meiner Schule vorbei. Sie war schon fast ausgebrannt. Im Landgericht gegenüber loderten Flammen aus dem vierten Stock, in dem das Büro meines Vaters war. Meine Großmutter sah uns kommen, ging in ihre Küche und begann sofort Kartoffeln zu reiben; sie war eben eine Sächsin. Den köstlichen Geschmack der Kartoffelpuffer dieses Dezembermorgens hat mein Gaumen nie vergessen.

Am Nachmittag trugen vier französische Zwangsarbeiter meine Mutter in Clara Nettos Wohnung. Sie war ohnmächtig, aber ihre Hände umklammerten die sächsische Kurfürstenbibel, die seit Jahrhunderten in unserem Familienbesitz war. Diese Ausländer waren das brennende Treppenhaus im Haus Sophienplatz 6 hinaufgestürmt und hatten meine Mutter in ihrem Musikzimmer mit dieser Bibel auf dem Schoß unter dem Blüthner-Flügel vorgefunden.

Weshalb hatten sie ihr Leben riskiert, um eine bewusstlose Deutsche – eine „Feindin“ wohlgemerkt – zu retten? Woher kannten sie die Adresse meiner Großmutter? Warum kamen sie am nächsten Tag wieder, um nachzufragen, wie es meiner Mutter gehe? Über die Antworten könnte ich wohl spekulieren. Aber dies wäre dann doch eine Geschichte für einen anderen Tag.

Kriegserlebnisse – insbesondere die Kriegserlebnisse von Kindern – wirken in der Retrospektive zuweilen wenig plausibel. Aber Gillian und ich halten uns für verlässliche Zeugen. Wir gedenken heute noch fassungslos, aber auch dankbar dieser Parallelen in unserer frühen Kindheit. Wir lernten uns vor 46 Jahren in London kennen und heirateten bald darauf in New York. Als Gillian mich ihrem Vater vorstellte, sagte er: „Nur ein toter Deutscher ist ein guter Deutscher.“

Aber das war ein Scherz. Sidney Ackers umarmte mich und behandelte mich von diesem Augenblick an wie ein Vater seinen Sohn. In Wahrheit war dieser tiefgläubige Mann keines einzigen niederträchtigen Gedankens fähig. „Während des ganzen Krieges habe ich in meiner Familie nie eine gehässige Bemerkung gegen die Deutschen als Volk gehört“, sagt Gillian.

So war das auch bei uns in Leipzig. Selbst als britische Bomben auf die Stadt fielen und Verwandte zerfetzten, sprach mein Vater voller Respekt über Winston Churchill, den er für den „größten Staatsmann unserer Zeit“ hielt, wobei er mir stets einschärfte, darüber keinesfalls in der Schule zu reden. Wie Gillian wurde ich dazu erzogen, den „Feind“ nicht zu hassen.

Sidney Ackers war in seiner Jugend in der Handelsmarine. Sein Lieblingsmeer war die Nordsee. Dort, so bat mich dieser vorzügliche Mann vor seinem Tod, solle ich doch bitte seine Asche beisetzen. Das taten wir. Auf halbem Wege zwischen England und Deutschland versenkten wir seine Urne vom Deck der „Prinz Hamlet“, einer Fähre, die damals zwischen Harwich und Hamburg verkehrte.

© Rheinischer Merkur Nr. 13, 26.03.2009

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