Monday, March 12, 2012

Causa Wulff: Unfassliche Inhumanität

von UWE SIEMON-NETTO

Jetzt, da Christian Wulff mit Großem Zapfenstreich aus seinem Amt verabschiedet wurde, ist ein Nachwort fällig. Ich habe diese Affäre aus der Ferne verfolgt und bekam eine Gänsehaut ob der unfasslichen Inhumanität meiner Landsleute und ihrer Kirchenführer gegen einen Mitmenschen. Herr Wulff ist kein Verbrecher; es gab weder eine Anklage, noch eine Beweisaufnahme noch ein Urteil gegen ihn. Gleichwohl traten die Medien, einschließlich leider der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, eine Hasslawine gegen ihn los, die in der Geschichte dieser Republik kein Beispiel hat.

Ich begreife nicht, wieso sich die FAZ ohne Not an die Spitze eines Lynchmobs gesetzt hat. Wulff wurde zum nationalen Unhold gemacht. Wo werden er und seine Familie fortan noch in unserem Lande ihr Gesicht zeigen können? Was haben seine Kinder jetzt an der Schule auszustehen? Der hämische Pöbel, der sich heute in Zeitungsblogs artikuliert, erinnert mich an die Tricoteusen rund um die Guillotine der französischen Revolution -- und an Schlimmeres. Bedenklicher als Wulffs vielleicht fragwürdige Ethik ist der Unrat, der sich hier von der Volksseele entlud.

Dass sich gleich mehrere FAZ-Ressorts an dieser Hatz beteiligten, stellt ihr Verhalten keineswegs in ein edleres Licht. Im Gegenteil: Hier wurde im Gleichschritt marschiert -- im Gleichschritt miteinander und mit BILD, das früher einmal ein amüsanter Jahrmarkt war, jetzt aber zu einem Koloss mit enormer Machthybris mutiert ist.

Strafverschärfend kam hinzu, dass sich dies alles auf Souterrain-Niveau vollzog; nie werde ich den unappetitlichen Hinweis der Fernseh-Moderatorin Bettina Schausten auf ihre Gästematratze vergessen. Wir erinnern uns: Sie fragte Wulff vor laufender Kamera, wieso er nicht seiner Gastgeberin -- wo war's, in Florida? -- 150 Euro zugesteckt habe. Spätestens an diesem Punkt hätten sich die FAZ-Verantwortlichen sagen müssen: "In dieser Allianz haben wir nichts zu suchen." In zivilisierten Kreisen ist ein Gast genau das, was dieses Wort besagt: ein Gast. Ein solcher gibt der Hausherrin kein Trinkgeld, bringt aber vielleicht eine Kiste Wein oder ein anderes Geschenk mit; derlei Aufmerksamkeiten scheinen im verproleteten Berlin nicht geläufig zu sein,

Als Journalist mit 55 Berufsjahren schäme ich mich meiner Zunft. Wenn sie aber tatsächlich das neue Antlitz der Deutschen präzise porträtiert hat und das übermittelte Hasspotential der Realität entspricht, dann: Kyrie eleison!

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