(Dieser Kommentar erschien 2011 in der Schweizer Monatszeitschrift Factum)
Von UWE SIEMON-NETTO
Im schrillen Talkshowpalaver, das in den USA
augenscheinlich den seriösen Journalismus abgelöst hat, ist eine Floskel täglich
zu hören. Sie lautet „American Exceptionalism“. Dieser Begriff fußt auf der
These, dass sich die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer demokratischen Ideale
Freiheit, Gleichheit und Individualismus von allen anderen Nationen qualitativ
unterscheiden. Dieser Gedanke ist nicht neu; er wirkt aber heute besonders
grotesk, weil er zumeist mit Seitenhieben gegen Europa, insbesondere
Frankreich, geäußert wird. Kein Land sei so großmütig, hilfsbereit und
opferwillig wie die USA, sagen die Kommentatoren, aber keines ernte soviel
Undank. Kurz, Amerika sei herzensgut, während das „sozialistische“ Europa den
Makel habe, dass es dort zu viele Europäer gebe. Mit dieser Abgeschmacktheit
erntete ein Medienstar unlängst im Fox-Kabelfernsehen das vergnügte Prusten seiner
Mitschwätzer.
Ich bin ein konservativer Europäer. Umso mehr
empört es mich, dass vor allem die vorgeblich konservativen Gegner Barack
Obamas, zu dessen Verehrern ich wahrlich nicht zähle, vor Millionen
Fernsehzuschauern dyergestalt daherplappern, und mich erbost insbesondere der selbstgerechte, pseudoreligiöse Unterton der
Behauptung, dass Amerika „exzeptionell“ sei. Amerikas Sonderrolle wird wie eine
Gottesgabe dargestellt. Niemand scheint diesen Leuten entgegenzuhalten, dass es
biblisch gesehen nur ein auserwähltes Volk gibt, nämlich das jüdische; dass
darüber hinaus jedes Land wie auch jedes Individuum spezifische göttliche
Berufungen hat, von denen keine über der anderen rangiert; dass drittens die
Erbsünde alle Menschen befallen hat.
Angesichts des pseudoreligiösen Charakters dieses
Geredes erinnere ich an das Lutherwort vom „fahrenden Platzregen, der „nicht
wieder dahin kommt, wo er einmal gewesen ist.“ Luther meinte damit plötzliche
Segnung bestimmter geographischer Plätze -- zum Beispiel Deutschlands zur
Reformationszeit -- mit Gottes Wort. Das gleiche gilt auch für den weltlichen Bereich.
Gott vertraut Nationen besondere Aufgaben an. Aber wir wissen aus dem Alten
Testament, dass Gott einer untreuen Nation auch seinen Rücken zuwenden kann.
Nur Toren können bestreiten, dass Amerika im
Weltgeschehen zwar einen gewichtigen Auftrag hat aber derweil daheim vom Weg
abgekommen ist. Vor den jüngsten Kongresswahlen war viel von Steuern die Rede,
viel vom Schrumpfen des Wohlstandes der Amerikaner, viel auch von
Arbeitslosigkeit, und dies waren legitime Themen. Aber erstaunlich wenig wurde
darüber gesprochen, dass die Vereinigten Staaten die westliche Welt eben nicht
nur vor Tyrannei schützten sondern auch in den Morast einer Massenperversion führten,
die mit den Idealen von Freiheit und Gleichheit unvereinbar ist: Ich meine den
Entzug des Lebensrechtes
ungeborener Kinder.
Seit der Oberste Gerichtshof 1973 die Abtreibung
billigte, sind in diesem Land mindestens 70 Millionen Babys in Mutterleib
umgebracht worden. Jährlich werden 1,2 Millionen mehr gemeuchelt. Die meisten
anderen Demokratien sind diesem Beispiel Amerikas gefolgt und nicht umgekehrt, so
wie sie die Leitmacht auch in ihren anderen Verirrungen nachäfften, sei es in
der Glorifizierung des Drogenkonsums, sei es indem sie Homosexualität und Ehe
zunehmend gleichsetzten und damit die Familie als Schöpfungsordnung in Frage
stellten.
Dies alles verleiht dem "American Exceptionalism"
einen düsteren Aspekt, denn es mutiert die demokratische Tugend des
Individualismus zur Untugend der Ichsucht, und dies schlägt sich allenthalben
in der wirtschaftlichen, geistigen, kulturellen und politischen Malaise der USA
nieder.
Obama und sein Berater, vorwiegend Veteranen der
linksradikalen Szene der Sechzigerjahre, treten vehement für das
"Recht" werdender Mütter ein, zwischen Leben und Tod ihrer Leibesfrucht
wählen zu dürfen. Der permanente Verstoß gegen das Lebensrecht Millionen Ungeborener
war im letzten Wahlkampf aber bestenfalls ein Randthema. Und dies stellt die
Verkünder des „American Exceptionalism“ in ein absurdes Licht. Denn es ist
vermessen zu glauben, dass Gottes Platzregen auf die Dauer den von immer
frischem Blut getränkten Boden fruchtbar halten wird -- in Amerika und
anderswo. Um Luther zu paraphrasieren: Platzregen haben es an sich,
weiterzufahren.
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