Uwe's Vietnam-Memoiren
ab Februar 2014 in den
Buchhandlungen
-->
Über den
Vietnam-Krieg wurden in den letzten 40 Jahren tausende von Büchern geschrieben.
Uwe Siemon-Nettos Memoirenband „Duc, der
Deutsche“ unterscheidet sich von den anderen: Er ist eine Liebeserklärung an
das südvietnamesische Volk.
Siemon-Netto berichtete fünf Jahre lang als Reporter über diese geschundenen
Menschen, die ihm den Spitznamen Duc
(der Deutsche) verliehen. Jetzt schildert er sie voller Humor und Leidenschaft.
Er zeichnet die Schicksale von Waisenkindern nach, von denen einige nachts in
seinem Citroen, andere unter den Bäuchen von Wasserbüffeln Obdach fanden. Er
stellt uns einen Soldaten vor, der mit seinem Kanarienvogel ins Gefecht zieht –
seiner einzigen Habe, nachdem die Vietcong seine Eltern ermordet und ihr Haus
niedergebrannt hatten. Er erzählt Liebes- und Leidensgeschichten, preist die
Schönheit der vietnamesischen Frauen und ihre zähe Natur. Er beschreibt eine
grausige Nacht in einem Dschungeldorf, dessen Bürgermeisterfamilie – Vater,
Mutter, zwölf Kinder – von Partisanen zu Tode gefoltert wurden. Und er führt
uns zu den Massengräbern von Hué, in denen er die Leichen hunderter von Frauen
und Kinder sah – allesamt Opfer der kommunistischen „Befreier“. Siemon-Netto
sagt unerschrocken, dass die falsche Seite gesiegt habe, und wirft mit Blick
auf Afghanistan eine quälende Frage auf: Hatte der nordvietnamesische
Chefstratege Vo Nguyen Giap Recht als er voraus sagte, dass westliche
Demokratien politisch und psychologisch unfähig seien, einen langen
Guerillakrieg zu einem siegreichen Ende zu bringen.
*****
Prolog
Duc oder der Triumph des Absurden
Vor
vierzig Jahren triumphierte in Südvietnam ein Absurdum. Am 30. April 1975 siegten in diesem gequälten Land
die Falschen. Die Kommunisten siegten nicht, weil sie dies moralisch verdient
hätten. Sie bezwangen das Volk mit Terror, Folter, Massenmord –
völkerrechtswidrigen Mitteln, die sie mit eiskaltem Kalkül strategisch
einsetzten, während an den Universitäten und in den Innenstädten der USA und
Westeuropas die Jugend ihnen zujubelte. Sie gewannen die Oberhand, obwohl sie
militärisch längst geschlagen waren. Warum? Der nordvietnamesische
Verteidigungsminister Vo Nguyen Giap hatte es prophezeit: „Der Feind (gemeint:
das freiheitliche System des Westens) hat psychologisch und politisch nicht das
Zeug, einen ausgedehnten Krieg zu führen.“ Adelbert Weinstein, der brillante
Militärfachmann der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung, fasste in seinem Leitartikel zum Fall von Saigon den
Grund für den Sieg dieser totalitären Macht in einem elegischen Satz zusammen:
„Amerika konnte nicht warten.“
Das
Giap-Zitat und das Adjektiv „absurd“ werden in diesem Buch immer wieder
auftauchen. Sie sind der rote Faden, mit dem ich meine Leser an den Hauptgrund
erinnern möchte, aus dem ich nach vier Jahrzehnten meine Memoiren aus meinen
fünf Vietnam-Jahren niederschrieb. Ich hoffe, dass dies auch dann
durchschimmert, wenn ich nach Reporterart Schmonzetten, Anekdoten, erotische
Episoden und Abenteuergeschichten zu einem literarischen Potpourri verarbeite,
und dies wiederum, weil ich damit das andere zentrale Thema dieses Bandes
untermauern will: Hier handelt es sich um meine Liebeserklärung an das
verwundete und verratene vietnamesische Volk, dem in den meisten anderen
Büchern über diesen Konflikt absurderweise (!) ein untergeordneter Platz zugewiesen
wurde.
Ich
werde die zweite Auflage der amerikanischen Ausgabe meines Buches in Triumph of the Absurd umbenennen, also
Triumph des Absurden. In dieser Ausgabe tue ich das nicht, weil Duc, der Deutsche eine schöne
Alliteration ist, an der ich als ehemaliger Zeilenschmied – so nennt man in
Zeitungsredaktionen einen Überschriftenmacher – meine Freude habe. Das Wort Duc hat aber einen mehrfachen Bezug:
Erstens bedeutet es „der Deutsche“. Zweitens war es der Spitzname, den mir
meine vietnamesischen Freunde gaben. Drittens hießen zwei meiner Protagonisten Duc: ein jugendlicher Büffelhirte, den
wir später kennenlernen werden, und ein Saigoner Zeitungsjunge, von dem in
diesem Prolog die Rede sein soll.
Dieser Duc war ein „Griewatsch“, wie wir Leipziger früher
einen Lausejungen nannten. Er war dünn wie ein Bambusrohr, in mindestens drei
Sprachen schlagfertig und augenscheinlich stets bester Laune. Sagte ich
Lausejunge? Er war mehr. Duc war ein Ober-Griewatsch, der Häuptling einer Schar
obdachloser Kinder, die tagsüber auf dem Trottoir vor meinem Hotel in Saigon zu
überleben versuchten. Duc und ich wurden im Januar 1965 Freunde. Damals ließ
die Tu-Do-Straße, früher Rue Catinat genannt, noch Spuren ihres früheren
Charmes aus der französischen Kolonialzeit erkennen. Noch spendeten buschige,
hellgrüne Tamarindenbäume den Passanten Schatten; bald würden diese
Sauerdatteln den Abgasen der Zweitaktmotore vieler zehntausend Mopeds zum Opfer
fallen. Auch mein betagter Citroen 15 CV trug zu ihrem langsamen Ableben bei. Mein
Auto war ein Vorkriegsmodell der Traction
Avant, des legendären Gangsterwagens, den wir aus französischen
Kriminalfilmen kennen. Es war eine Tonne Eleganz auf Rädern, jedoch ungemein
durstig. Dreißig Liter Benzin pro
100 Kilometer schluckte dieser schöne Koloss, das heißt, sofern er überhaupt
Treibstoff im Tank hatte. Hin und wieder hatte er ein Leck, das mein Mechaniker
binnen Sekunden notdürftig reparierte, indem er ein Stück Kaugummi aus dem
Innern seiner linken Wange erntete und auf das Loch pappte.
Wie
wir gleich sehen werden, war meine Freundschaft mit Duc mit meinem Faible für
dieses Auto verwoben, das in Wahrheit gar nicht mir gehörte. Ich hatte es
langfristig von Ariane gemietet, der Saigoner Konzessionärin eines weltweiten
Leihwagenkonzerns. Ariane war eine anmutige Französin, über die ich später
erfuhr, dass sie zugleich mehrere westeuropäische Geheimdienste in diverser
Weise be diente, darunter den BND. Ich war sehr wohl ins Grübeln gekommen, als
sie verstohlen die Notizen und Manuskripte auf meinem Schreibtisch
durchstöberte, wenn sie mich, wie an vielen späten Nachmittagen, zusammen mit
anderen Freunden, zum Dämmerschoppen in meiner Suite 214 im Hotel „Continental
Palace“ aufsuchte. Und da hatte ich mir nun eingebildet, dass sie wegen meiner
damals noch fettfreien Figur, meines dichten blonden Haars und meines
teutonischen Charmes gekommen wäre, vielleicht auch wegen meiner
Martini-Cocktails aus Tanqueray-Gin und einem Tropfen trockenen Wermuts, wie
ich sie in New York zu mixen gelernt hatte.
Nie
hatte Ariane mir gesagt, dass sie Deutsch konnte. Wieso starrte sie dann also
täglich auf Texte, die ihr scheinbar unverständlich waren? Nun weiß ich’s:
Meine liebreizende Ariane war ein weiblicher Schlapphut, wie mir der Resident
des niederländischen Geheimdienstes anvertraute, ein Mann, der
höchstwahrscheinlich auch zu ihren Galanen zählte wie viele seiner Kollegen.
Aber das war mir gleichgültig: Ich liebte ihr Auto, und sie liebte meine
Martini-Cocktails, die sie mit Grazie herumreichte; dass sie in meinen Artikeln
schnüffelte, störte mich nicht; ich hatte sie ja schließlich für die
Öffentlichkeit geschrieben.
Meine
Gedanken wandern; kehren wir zu Duc zurück. Er war ein lustiger Bursche mit
einem Schalk im Nacken, ganz so wie ich es in seinem Alter war, als ich in
Leipzig aus Wanzengas, Unkraut-Ex, einem Reichspfennig und einem Briefumschlag
harmlose Sprengkörper bastelte und diese in der Bayerischen Straße auf die
Gleise der Straßenbahnlinie 16 legte, die von Wiederitzsch zur Märchenwiese
fuhr. Wenn sie detonierten, flogen die Pappscheiben aus der bombenlädierten
Tram, und die Fahrgäste blickten angstvoll auf die vorbeiziehenden, immer noch
qualmenden Häuserruinen: Schon wieder ein Luftangriff? Ich machte mich aus dem
Staub. So garstig waren wir großstädtischen Griewatsche im Zweiten Weltkrieg;
so garstig war Duc nicht.
Nein,
Duc war ein Schelm mit Verantwortungsbewusstsein. Er sorgte sich um das
Wohlergehen seiner Anvertrauten, der viel jüngeren kleinen Waisenkinder, die
auf den Bürgersteigen und in den Hauseingängen der Tu-Do-Straße zwischen dem
Boulevard Le Loi und der Le-Thanh-Ton-Straße lebten und in den Diensten einer
rundliche Frau mittleren Alters standen; wir nannten sie Mamasan. Sie residierte vor dem Café
La Pagode, dessen Feingebäck weit über Saigon hinaus legendär war. In La Pagode traf sich die
schnatternde Jeunesse Dorée des vorkommunistischen Saigons und hatte beim Genuss
der Confiserien immer die mütterliche Mamasan
im Blick. Sie war in diesem Häuserblock der südvietnamesischen Hauptstadt die
Pressezarin. Mamasan hockte, umgeben
von Zeitungsstapeln, auf dem Bürgersteig. Da waren drei englischsprachige
Lokalblätter, zwei französische, etliche chinesische und weiß der Himmel wie
viele vietnamesische; die Vietnamesen sind passionierte Leser. Mamasan verteilte die Zeitungen an
Ducund seine Obdachlosenschar und an ähnliche Gruppen aus anderen Straßenzügen.
Duc
war augenscheinlich Mamasans wichtigster Satrap. Sein Revier erstreckte sich
über den renommiertesten Straßenzug Saigons, von La Pagode bis zum Restaurant Givral,
dessen chinesische Nudelsuppe und französische Zwiebelsuppe Feinschmecker in
ganz Südostasien priesen.
Dazwischen lag die luxuriöse Einkaufspassage des Eden-Gebäudes, in dem neben der Redaktion der Associated Press, für die ich früher in
Deutschland gearbeitet hatte, auch die Konsularabteilung der bundesdeutschen
Botschaft untergebracht war. Ich
vermute, dass ich Ducs liebster Kunde
war, weil ich jeden Tag bei ihm
die Saigon Daily News, die Saigon Post, den Saigon Guardian und den Journal
d’Extrème Orient kaufte und mehrmals in der Woche auch zwei
vietnamesischsprachige Zeitungen. Nicht dass ich letztere mühelos lesen konnte;
mich lockten eigentlich nur die großen weißen Flecke im Textteil ihrer Seiten
an, das Werk regierungsamtlicher Zensoren. Zu ermitteln, was da dem Leser
vorenthalten werden sollte, war jeden Morgen ein den Verstand schärfendes
Gedankenspiel.
Eines
späten Nachmittags nun, unmittelbar von dem Anbruch der Monsunzeit, wurden Duc
und ich Geschäftspartner. Pechschwarze Wolken hingen tief im Tropenhimmel;
gleich würden sie bersten und Wasserscheiben von der Schnittkraft eines
Fallbeils auf unsere Köpfe entsenden; Saigons Prachtboulevard würde sich binnen
Sekunden in einen brodelnden Strom verwandeln. Eilig manövrierte ich meinen
Citroen in eine enge Parklücke direkt vor dem Givral, was eine beachtliche Muskelkraft erforderte, weil das
schwere Gefährt mit seinem gusseisernen Sechs-Zylinder-Triebwerk keine
Servolenkung hatte. Erschöpft schaltete ich den Motor ab und freute mich schon
auf die Flasche Bière Larue, die mich
auf der überdachten Terrasse des Hotels Continental
Palace direkt gegenüber erwartete. Da stellte sich mir Duc in den Weg.
Duc
zeigte auf meine Windschutzscheibe, hinter die ich einen Schutzschein von der
deutschen Botschaft geklebt hatte. Er trug die deutschen Nationalfarben
Schwarz-Rot-Gold, den Stempel und die Unterschrift eines Konsularbeamten und
wies mich als Bao Chi
Duc aus: als einen Vertreter der deutschen Presse. Dieses Dokument sollte mich vor
Unannehmlichkeiten bewahren, wenn ich bei Wochendausflügen nach Vung
Tau, ein Seebad, das früher unter dem
Namen Cap Saint Jacques als das
St. Tropez des Orients galt, in eine Vietcong-Straßensperre geriet. Und
tatsächlich: Nie widerfuhr mir zu solchen Anlässen Schlimmeres, als dass mir
die in schwarzen Pyjamas uniformierten Partisanen einen Wegzoll berechneten,
diesen aber für meine Spesenabrechnungen gewissenhaft quittierten.
„Du
bist ein Duc“, rief der Griewatsch freudig, du bist ein Deutscher. „Ich heiße Duc. Du Duc, ich Duc, wir beide Duc. Wir Brüder.“
Wir
schüttelten uns die Hände, und damit hatte ich fortan einen jüngeren Bruder in
Saigon. Nach ein paar Tagen fand ich heraus, dass dies zudem ein Wortspiel war:
Ducist auch die vietnamesische Vokabel für tugendsam. Dann aber kam er gleich
zur Sache:
„Okay,
Okay“, sagte er hastig, „gleich setzt der Regen ein, Bruder Duc. Regen Numbah Ten.“ Im Saigoner Straßenjargon
bedeutet „Numbah ten“ (Nummer zehn)
das Allerschlechteste.
„Okay,
okay“, fuhr Duc fort. „Du, Duc, Du Numbah
One“, also mithin der Allerbeste. „Okay, okay, können wir miteinander ins
Geschäft kommen?“
Sogleich
entwickelte er einen Plan, der uns beiden Vorteile bringen sollte: Ich würde
ihm und seinen obdachlosen Anvertrauten während der Regenzeit in meinem
geparkten Citroen Unterschlupf gewähren. Mein Auto würde ihr Schlafzimmer sein.
Im Gegenzug würden sie es sauber halten und vor Dieben schützen. Mein Schloss
funktionierte eh nicht mehr; soviel hatte Duc
bereits ermittelt.
„Okay,
okay, Duc?“ beschwor er mich
ungeduldig.
Ich
nickte. Er pfiff, und alsbald kamen acht Straßenkinder aus verschiedenen
Hauseingängen und drängelten sich in meinen Wagen. Drei kringelten sich auf
meiner Rückbank zusammen, zwei davor auf den Klappsitzen, wie sie in schweren
Limousinen der Vorkriegszeit üblich waren. Je ein Kind streckte sich in den
Beinräumen zwischen den Vorder-, den Mittel- und den Rücksitzen aus, ein
kleines Mädchen machte es sich auf dem Beifahrerplatz bequem, und Duc, der
Kapitän, setzte sich hinters Steuer.
„Bonne nuit, Duc!“, rief er, gute Nacht!
„Du Numbah One.“ Damit kurbelte er
sein Fenster hoch, und alsgleich setzte der Monsunregen ein. Die Kinder waren
im Trockenen. Ich war binnen Sekunden bis auf die Knochen durchnässt, und die
Tu-Do Straße hatte sich in einen reißenden Strom verwandelt. Ich watete so
schnell ich konnte hinüber zum Continental
und benötigte nun mehr als ein Bier. Erst musste ich mich duschen, danach
brauchte ich einen Whisky. Da saß ich nun auf der Terrasse und blickte zufrieden
über die Straße zu meinem Citroen, bis schlagartig die tropische Nacht anbrach.
Seine Fenster waren beschlagen; der Regen prasselte auf sein Dach und machte dabei einen unbeschreiblichen Lärm.
Nie in meinen fünf Vietnam-Jahren hat mir eine Szene so wohlgetan: Die Kinder
schliefen im Trockenen. Mich überkam ein Glücksgefühl, wie es mir selten in
meinem weiteren Reporterleben vergönnt war.
Duc
kam mir als erster in den Sinn, als ich beschloss, 40 Jahre nach dem fatalen
Abzug der amerikanischen Truppen aus Südvietnam meine Memoiren über meine fünf
Jahre in diesem zauberhaften und doch so gepeinigten Land zu veröffentlichen.
Dieser Straßenjunge verkörperte viele der Qualitäten, die ich an den
Vietnamesen liebgewonnen hatte: ihren Fleiß, ihre Pfiffigkeit, ihre Spannkraft,
ihre augenscheinlich überdurchschnittliche Intelligenz, ihre Leidensfähigkeit
und – wenn sie mit dem nötigen Respekt und mit Finesse behandelt wurden – ihre
Loyalität.
An
Duc dachte ich, als ich, nunmehr mit der großen Kolonie vietnamesischer
Flüchtlinge und ihrer Nachkommen in Südkalifornien eng verknüpft, melancholisch
darüber reflektierte, was ihnen dadurch zugefügt wurde, dass die USA sie
letztlich im Stich ließen: zwischen 200.000 und 400.000 ertranken auf der
Flucht vor den kommunistischen Siegern, hunderttausende wurden hingerichtet,
hunderttausende mehr in Umerziehungslagern gefoltert. In meiner Nachbarstadt
Westminster begegne ich immer wieder Männern und Frauen, die nach wie vor
psychisch und physisch an den Folgen dieser Martern leiden; Hanoi hatte sie
schließlich ziehen lassen, aber als menschliche Wracks. Noch viel mehr
ehemalige Soldaten der südvietnamesischen Streitkräfte leben mit
posttraumatischen Belastungsstörungen fürchterlichster Art.
Dennoch
lamentieren sie nicht. Sie haben sich zusammengerissen, sie sind zu etwas
gekommen. Unter meinen Freunden sind ehemalige Obristen, die nach ihrer Flucht
in den USA nach 1975 als Gelegenheitsarbeiter und Hauspersonal begonnen hatten
und nun – vier Jahrzehnte später – stolz
auf das seien können, was sie geleistet haben: ihre Kinder sind heute
Ärzte, Anwälte, Richter und renommierte Zahnärzte; ihre Enkel sind so straff
erzogen, dass sie mit blendenden Zensuren von den Oberschulen abgingen und nun
mit großzügigen Stipendien ausgestattet an den feinsten Universitäten Amerikas
studieren. Die Vietnamesen gehören zu den erfolgreichsten und problemlosesten
Minderheiten in den Vereinigten Staaten. Sie demonstrieren nicht, sie
randalieren nicht, sie verbrennen sich nicht das Hirn mit Rauschgift, sie
verbrennen keine Sternenbanner, um ihre angelsächsischen Nachbarn zu
provozieren, sie füllen nicht die Gefängnisse oder liegen dem Steuerzahler zur
Last. Nein, sie lesen und studieren, arbeiten gewissenhaft und treiben Handel,
sie erziehen ihre Kinder mustergültig und sehen obendrein auch noch anmutig
aus.
Das
alles ging mir durch den Kopf als ich mich an meine kurze Freundschaft mit Duc
zurückerinnerte, auf den sich der Titel dieser Memoiren symbolhaft bezieht, so
wie er natürlich auch meinen Spitznamen ins Gedächtnis rufen soll, mit dem mich
manche meiner vietnamesischen Freunde in Kalifornien heute wieder anreden. Ich
hoffe, dass Ducs Leben letztlich so
glücklich verlief wie das ihre, aber wissen kann ich dies nicht. Wir verloren eineinhalb Jahre nach
unserem ersten Treffen den Kontakt. Was war seither aus ihm geworden? Wurde er
in die südvietnamesische Armee eingezogen? Wurde er verwundet, fiel er gar im
Gefecht? Schloss er sich den Vietcong an; starb er in ihren Diensten? Wurde er,
wie zehntausende anderer Zivilisten, während der kommunistischen Tet-Offensive
1968 massakriert? Oder floh dieser umtriebige Geselle 1975 auf einem Fischerboot? Vielleicht lebt er als ein
wohlhabender Geschäftsmann bei mir um die Ecke.
„Vielleicht
wird er die englische oder die vietnamesische Ausgabe deines Buches lesen“,
mutmaßten meine Freunde Quy Van Ly und seine Frau QuynhChau, auch Jo genannt,
als sie mich einluden, auf einem Kongress früherer Sanitätsoffiziere des
südvietnamesischen Militärs die Festansprache zu halten. „Schreib’ über Duc“,
drängten sie mich Quy und Jo, die beide Zahnärzte sind. „Schreib’, wie’s damals
war in unserer Heimat. Tu’s für uns und für unsere Kinder, die ein großer
Wissensdurst über das Land ihrer Vorfahren treibt. Als Deutscher bist Du glaubwürdiger
als irgendwelche amerikanischen, französischen oder vietnamesischen Autoren,
denn dies war ja nicht dein Krieg. Du warst doch nur ein Beobachter.“ Andere
Kongressteilnehmer setzten sich an unseren Tisch: Ärzte, Zahnärzte und
Apotheker. Sie alle rieten mir das gleiche, und verbreiteten hernach mein
Referat über ihre Webseiten im Internet.
Wie ich schon eingangs schrieb, habe ich die Eroberung Südvietnams durch die Kommunisten alles
andere als begrüßt. Sie haben diesen Triumph so wenig verdient wie die Taliban
in Afghanistan ihren Triumph verdient haben werden, wenn die NATO ihrem Land
den Rücken kehrt. Diese düstere Aussicht war ein
weiterer Grund, aus dem ich dieses Buch geschrieben habe. Ich war in
Vietnam Zeuge ruchloser Gräuel, die kein Fehlverhalten einer verwahrlosten
Soldateska waren, wie das in jedem Krieg vorkommt, sondern der Vollzug einer
sorgfältig ausgeklügelten kommunistischen Terrorpolitik, von „oben“ befohlen,
ganz so wie die Genozide des Dritten Reichs, des Stalinismus und der „großen
proletarischen Kulturrevolution“ Mao Zedongs. Verglichen damit waren die
unbestreitbaren Kriegsverbrechen schlecht geführter amerikanischer und
südvietnamesischer Einheiten, die damit sowohl gegen die politischen Ziele
Washingtons und Saigons als auch gegen internationales Recht verstießen,
begrenzt. Sie machten aber mehr
Furore, weil sie in der westlichen Presse ausführlich beschrieben und dann auch
militärstrafrechtlich geahndet wurden, wie zum Beispiel das Massaker von My Lai
im März 1968.
Als
passionierter Journalist alter Schule empfand ich es, dies sei hier
klargestellt, als schandbar, dass viele amerikanische Kollegen, darunter die
berühmtesten, die eigene Seite systematisch schlecht redeten und den
totalitären Charakter des Gegners verniedlichten oder gar verschwiegen. Ebenso
verachtete ich die Arroganz und Unredlichkeit, mit der Kommentatoren und
Intellektuelle von Weltrang den Charakter, die Kompetenz und den Mut der
Südvietnamesen diffamierten und dies heute noch tun. Dieser Hochmut hat dazu beigetragen,
dass die falsche Seite diesen Krieg gewann und hunderttausende unschuldiger
Menschen dadurch ihr Leben verloren. Noch eines empört mich noch heute: die
haarsträubende, selbstgerechte Weise, mit der die nach dem platten Motto „make love not war“ ausgerastete
Hippiegesellschaft der Sechzigerjahre in den USA die heimkehrenden
Vietnam-Krieger behandelte: Diese an Leib und Seele blutenden jungen Männer,
fast alles Wehrpflichtige, wurden von einer Minderheit ihrer Landsleute, aber
leider einer großen, als „Babykiller“ gemieden und verhöhnt. Ebenso verwerflich
ist es, dass die US-Medien das andauernde Leiden der verwundeten und
gemarterten südvietnamesischen Kriegsveteranen in ihren Mitte hochnäsig
ignorieren, selbst dann, wenn neue wissenschaftliche Studien über ihren
furchtbaren Zustand vorliegen.
Dieses
Buch ist eine Sammlung persönlicher Skizzen dessen, was ich in meinen
Vietnam-Jahren sah, erlebte, genoss, erlitt und beobachtete, worüber ich
lachte, trauerte und schrieb. Es ist ein Mosaik teils erschreckender, teils
absurder, teils glamouröser, teils zauberhafter und frivoler Erlebnisse, die
mich manchmal verzweifeln, manchmal hoffen ließen. Auf den geistlichen Aspekt
dieses Abschnittes meines Lebens werde ich in den folgenden Seiten nicht näher
eingehen, weil er dort nicht hingehört. Deswegen erwähne ich ihn in diesem
Prolog. Jetzt an meinem Lebensabend weiß ich, was ich in den zurückliegenden
Jahrzehnten allenfalls ahnte: Vietnam hat mich zu dem lutherisch geprägten
christlichen Glauben zurückgeführt, den mir meine Großmutter Clara Netto auf
ihrem Schoß im Luftschutzkeller vermittelt hatte, indem sie mich, während um
uns herum Bomben detonierten, eng an sich presste und mir ins Ohr sang: „Ach,
bleib’ mit deiner Gnade, bei uns, Herr Jesu Christ, dass uns hinfort nicht
schade des bösen Feindes List“, wobei sie mir klarmachte, dass mit dem „bösen
Feind“ selbstverständlich nicht die Engländer gemeint waren, deren Flugzeuge
uns angriffen, sondern Satan.
Es
wäre unredlich, zu behaupten, dass ich in den Sechszigerjahren ein frommer
Christ gewesen wäre. Mein Lebensstil war reich an Lastern, unter denen das
Kettenrauchen zu den harmloseren gehörte, zumal Tabak in Kampfsituationen
betäubend wirkt, wie alle Frontsoldaten bestätigen werden. Das Photo auf meinem
Buchtitel zeigt mich in einer Gefechtspause während der Schlacht um Hue im
Februar 1968. Es verniedlicht nichts. Es ist realistisch. Darin liegt seine
Aussagekraft; deswegen haben wir es ausgewählt. So sieht eben ein Mensch aus,
wenn er Tag und Nacht um sich herum Menschen sterben sah. Es zeigt einen noch
jungen Mann in einer unvergesslich grauenvollen Situation, die den Rest seines
Lebens entscheidend bestimmen sollte. Genau dies ist meine Geschichte. Solche
Erlebnisse wirken langfristig, nicht von einem Tag auf den anderen. Erst zehn
Jahre nach der Tet-Offensive verzichtete ich endgültig auf den Nikotingenuss, weil die
Vernunft, eine Gottesgabe, es mir gebot. Andere Schwächen hielten länger an.
Ich
war nie ein Atheist und auch kein Agnostiker, sondern hatte mir in meiner
Torheit damals aber einen langen hedonistischen Glaubensurlaub gegönnt. Wohl
betete ich von Zeit zu Zeit das Vaterunser und summte gelegentlich den
Kollekten-Versikel aus dem 51. Psalm, der nun zum Leitspruch meiner alten Tage
geworden ist: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz...“ Und wenn ich Augenzeuge schwerer
Kämpfen war und vielleicht einem sterbenden Soldaten die Hand hielt, dann sang
ich in meinem Kopf das „Kyrie eleison“, das ich als Kind gelernt hatte: Herr,
erbarme dich. Heute bin ich dafür dankbar, dass ich mit der üppigen Liturgie
der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens aufgewachsen war. Ihre Worte
sind seither tief in meinem Gedächtnis verankert. Wie trostreich sie sind, kann
ein nur lascher Christ vielleicht erst dann ermessen, wenn er einmal in einer
lebensbedrohlichen Lage war, in der ihm notabene seine eigene Verwerflichkeit
klar wurde.
Ich
hatte, wohl dem Beispiel des Kirchenvaters Augustinus folgend, Gott einen Platz
hinten im Wartezimmer meiner Biographie zugewiesen. Zu liebreizend waren die
exotischen Wesen mit langen schwarzen Haaren, diese so zerbrechlich
ausschauenden und doch handfesten Frauen, in deren Armen unsereins das
Kriegsgeschehen einige Stunden lang vergaß; zu gut das Essen in Saigons
französischen Restaurants; zu lustig die Kameraderie vor allem meiner
britischen Kollegen, die wie ich kräftig dem Wein zusprachen und mit Witz den
Horror verdrängten, von dem wir gerade zurückgekommen waren und zu dem wir am
nächsten oder übernächsten Morgen zurückkehren würden.
In
dem Jahr, in dem die Amerikaner Vietnam den Rücken kehrten, also 1973, hörte
ich mich zu meinem eigenen Erstaunen in einem gottlosen Umfeld ein
Christusbekenntnis ablegen. Dies geschah unter skurrilen Umständen am Ende der
Morgenkonferenz einer von mir geleiteten Zeitungsredaktion nach einem bitteren
Schlagabtausch mit dem hasserfüllten Flügel meiner linksradikalen
Kollegen. Wie es dazu kam, soll
das Thema für einen anderen Zeitpunkt und ein anderes Buch bleiben. Hier sei
nur festgehalten, dass dies ein entscheidender Wendepunkt in meinem Leben war,
einer freilich, dem noch viele Versuchungen und innere Kämpfe folgen sollten,
bevor ich mich 13 Jahre später an der lutherischen theologischen Hochschule in
Chicago einschrieb.
Langsam,
fast homöopathisch, hatte Vietnam mich verändert, ohne dass ich mir dessen
selbst immer gewärtig war. Zunächst bildete ich mir ein, zum Pfarramt berufen
zu sein, bis meine kluge Frau mich davon überzeugte, dass ich mit meiner
scharfzüngigen Journalistenart jede Gemeinde binnen 24 Stunden spalten würde.
„Dein Platz in der Kirche ist weder am Altar noch in der Kanzel sondern hinten
auf einer der letzten Bänke, so dass du notfalls zum nächsten Tresen flüchten
kannst, bevor du bei einer schlechten Predigt explodierst. Studiere Theologie,
um verständlich darüber zu schreiben“, riet mir Gillian, und sie hatte Recht.
Bevor
ich mich aber für den rein akademischen Weg entschied, nahm ich noch an einem Sommerpraktikum
teil, das in den USA für alle angehenden Pfarrer Pflicht ist. Es heißt „Clinical Pastoral Education“, zu Deutsch: klinische
Seelsorgeausbildung. Ich absolvierte diesen Kursus in St. Cloud im Bundesstaat
Minnesota an einem Krankenhaus für ehemalige Kriegsteilnehmer, das eine
renommierte psychiatrische Abteilung hatte. Dort bat ich meine Vorgesetzten,
mich als Seelsorger für Vietnam-Veteranen abzustellen. Alsbald bekam ich es mit
zerrütteten Menschen zu tun, die mir Erschütterndes über die bornierte
Grausamkeit schilderten, mit der ihre eigenen Landsleute, namentlich junge
Frauen, sie verstoßen hatten. Schon meine ersten Gespräche mit ihnen zeigten,
dass sie fast alle davon überzeugt waren, von Gott längst zu ewigen
Höllenqualen verdammt worden zu sein. Gott, so meinten sie, sei in Vietnam
desertiert.
Dies
war der perfekte Ansatzpunkt für meine seelsorgerliche Arbeit, zumal ich mich
zuvor sehr intensiv mit der lutherischen Kreuzestheologie aus der Sicht
Dietrich Bonhoeffers beschäftigt hatte.
Zusammen mit dem Psychologen James Tuorila bildete ich Therapiegruppen,
denen jeweils bis zu 30 frühere Soldaten angehörten, vom einfachen Schützen bis
zum Oberstleutnant. Ich gab ihnen Bonhoeffers Buch „Widerstand und Ergebung“ zu
lesen. An diesem Werk faszinierte sie vor allem die Aussage: „,Könnt Ihr nicht
eine Stunde mit mir wachen?’ fragt Jesus in Gethsemane. Das ist die Umkehrung
von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet. Der Mensch wird
aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden.“
Dies
war das erste Mal, dass diese ehemaligen Krieger eine christliche Kernwahrheit
erfuhren: Wenn der Christ gehalten ist, mit Gott an dieser Welt zu leiden, dann
doch in der Nachfolge Jesu. Das Leiden dieser Männer in Vietnam und hernach in
der Heimat war das ihnen auferlegte Kreuz. Aber das heißt ja, dass Gott selbst
an der Welt leidet, deren Gottlosigkeit diese Kriegsleute täglich am eigenen
Leibe erfuhren. Wenn dies so ist, dann ist Gott also keineswegs ein Deserteur,
wie sie geglaubt hatten, sondern im Gegenteil ein mit ihnen leidender Kamerad.
Deshalb ist er von der Anklage der Fahnenflucht freizusprechen. Ich nahm die
Diskussionen der Veteranen über Bonhoeffer auf Band auf, redigierte und
kommentierte sie und legte sie
meiner Hochschule in Chicago als Magisterarbeit
vor. Diese kam 1990 in New York als Buch mit dem Titel „The Acquittal of God“ (Freispruch für Gott) heraus. Es ist
heute noch in Druck und gilt in den USA als ein Standardwerk für den
theologischen Umgang mit ehemaligen Kriegsteilnehmern.
Danach
hatte ich Anlass, mich auf eine ganz andere Weise mit dem Thema Vietnam
auseinandersetzen. Ich wechselte zur Boston University über, um mich auf meine
Promotion in der Doppeldisziplin Theologie und Religionssoziologie
vorzubereiten. Dabei erwachte mein Interesse am soziologischen Phänomen des
stereotypen Denkens. Bei dem niederländischen Soziologen Anton Zijderveld
entdeckte ich eine griffige Definition des Klischees als einer Metapher für
eine Denkweise, die er so definierte: „Klischees umgehen die Reflektion und bearbeiten
somit den Verstand im Unterbewusstsein, wobei sie potentielle Relativierungen
ausschließen“ (Zijderveld, Anton: On
Clichés. London 1979). Klischees, sagt Zijderveld, würden von der
Gesellschaft sozialisiert, und wenn dies erst einmal geschehen sei, würden sie
zu „Klumpen schal gewordener Erfahrungen“, die „stets abrufbar im Bewusstsein der Menschen [lagern]." Zijderveld sah eine
enge Wahlverwandtschaft zwischen Klischees und der Moderne. In meiner
Doktorarbeit ging ich einen Schritt weiter: Klischeedenken, so behaupte ich,
ist ein Zwilling des Zeitgeistes, der ebenfalls keine potentiellen
Relativierungen zulasse. Der Zeitgeist wiederum hat eine Eigenschaft, die
Zijderveld auch den Klischees zuschreibt: „[Sie] werden tyrannisch. Mit
anderen Worten, in einer voll modernisierten Gesellschaft lassen sich Klischees
nur schwer vermeiden; sie tendieren
dazu, Gussformen des Bewusstseins zu werden, während ihre Funktionskraft
... tief in die Strukturen des sozioökonomischen und politischen Lebens eindringt.“
Meine Dissertation hatte nichts mit Vietnam zu tun
sondern war angelegt, das weit verbreitete Klischee zu widerlegen, dass Martin
Luther ein Wegbereiter Adolf Hitlers gewesen sei. Ich wies auf eine große Zahl
relativierender Faktoren hin, die diese Verleumdung ad absurdum führten. Etwas Ähnliches
versuche ich in diesem Buch in punkto Vietnam, freilich nicht auf
wissenschaftliche, sondern auf eine erzählerische Weise. Denn auch zu diesem
Thema lagert – fast 40 Jahre nach dem Einmarsch der Kommunisten in Saigon – ein
stereotyper Klumpen im kollektiven Bewusstsein der Menschen: das absurde Klischee nämlich, dass dieser mit Mitteln des
Terrors und Massenmordes errungene Sieg ein Befreiungsschlag und somit eine
gute Sache gewesen sei. In seiner, wie Zijderveld sagen würde, tyrannischen
Weise zieht dieses Klischee keine relativierenden Faktoren in Betracht. Im
vorliegenden Buch versuche ich sie plastisch zu schildern, um einer infamen
Geschichtslüge entgegenzutreten.
Bei manchen Lesern mag bei der Lektüre von Duc der falsche Eindruck entstehen, dass dies ein Stück
Belletristik wäre. Ich habe es streckenweise bewusst in diesem Genre
geschrieben, um meine Leser bei der Stange zu halten. An zwei Stellen habe ich
mir aus dramaturgischen Gründen die schriftstellerische Freiheit genommen, zwei
oder drei Personen zu einer zu verschmelzen, und in einigen Fällen habe ich
Namen geändert, einfach um Menschen oder ihre Nachfahren vor Spott oder gar
Verfolgung zu bewahren. Aber alle hier erzählten Begebenheiten sind wahr und
alle Persönlichkeiten, trotz Pseudonyms, authentisch.
Um
mich selbst und meine Leser daran zu erinnern, dass dies ein Buch über einen
tragischen Krieg ist, der 1975 mit der Niederlage der Opfer einer Aggression
endete, füge alle paar Kapitel Betrachtungen ein, die diese Tatsache
unterstreichen. Ich beginne gleich nach diesem Prolog mit einer kurzen
Betrachtung über den Massenmord
,
den die Nordvietnamesen und der Vietcong während der Tet-Offensive Anfang 1968
begingen.
Ich
schulde vielen Menschen Dank, namentlich meinen Freunden Quy und Jo, die mir
standhaft zur Seite standen, während ich an diesem Manuskript arbeitete. Sobald
ich ein Kapitel beendet hatte, übersetzte Quy es mit der Hilfe seines in den
Niederlanden lebenden Freundes Nguyen Hien in ein elegantes Vietnamesisch und
entwarf die Titelseite der amerikanischen Ausgabe. Ich bin stolz, heute Teil
von Quys Familie zu sein. Ich danke dem Griewatsch Duc, auch wenn ich ihn aus
den Augen verloren habe, und
meinen vielen vietnamesischen, amerikanischen, französischen, britischen und
deutschen Freunden aus Vietnam-Zeiten. Ich danke den Vietnam-Veteranen, deren
Seelsorger ich vorübergehend in St. Cloud war, und den Psychologen, Psychiatern
und Geistlichen, mit denen ich damals fruchtbar zusammenarbeitete. Mein
besonderer Dank gilt meinem Freund und Kollegen Perry Kretz, der mir seine
dramatischen Bilder von unserer gemeinsamen Vietnam-Reportage 1972 zur
Verfügung stellte, und Karin Jansky-Barron, die das Manuskript der deutschen
Ausgabe dieses Buches mit großer Kompetenz und einem verblüffenden Tempo
Korrektur las.
Mit
Wehmut gedenke ich meines damaligen Verlegers Axel Springer und seines
Edelmuts, als ich 1966 in Saigon fast gestorben wäre. Er starb 1985, lange
nachdem ich seinen Verlag verlassen hatte. Dies zu tun war eine Torheit, die
ich heute noch bereue.
Vor
allem aber danke ich meiner Frau Gillian, die mir in unseren bislang 51
Ehejahren unerschütterlich zur Seite stand und die monatelangen Trennungen
ertrug, die mein Einsatz in diesem betörenden Land erforderte, dem nach wie vor
meine Liebe gilt.
******
Epilog
Frucht des Terrors und die Tugend der Hoffnung
Über vier Jahrzehnte sind seit meinem Abschiedsbesuch in
Vietnam vergangen. Am 30. April 2015 wird die Welt den 40. Jahrestag des
kommunistischen Sieges begehen. Der Bahnhof von Hué, von dem damals jeden
Morgen um acht eine Lokomotive mit Gepäckwagen zu einer symbolischen
500-Meter-Reise aufbrach, ist längst nicht mehr eine Bühne des Theaters des
Absurden. Er wurde sorgfältig restauriert und rosarot angestrichen. Wie zur
französischen Kolonialzeit ist er wieder die schönste Station in ganz
Indochina. Auf ihrem Vorplatz müssen Taxifahrer nicht mehr umsonst auf
Fahrgäste warten. Zehn bequeme Züge halten hier jeden Tag, fünf auf dem Weg
nach Norden, fünf unterwegs nach Süden. Inoffiziell tragen sie den kollektiven
Namen Wiedervereinigungs-Express.
Sollte
ich jetzt nicht jubeln? Ist das nicht wie in Deutschland, wo die Berliner Mauer
und die Minenfelder entlang der Zonengrenze verschwunden sind und
Hochgeschwindigkeitszüge mit Tempo 300 den vormals kommunistischen Osten und
den demokratischen Westen unseres Landes miteinander verbinden?
Selbstverständlich
bin ich froh, dass der Krieg vorbei ist. Aber hier endet der Vergleich mit
Deutschland, das seine Einheit ja vor allem aus drei Gründen wiedererlangte: Erstens
stürzten die Deutschen in der DDR ihr totalitäres Regime – und dies nicht mit
Gewalt sondern mit einem friedlichen Widerstand; zweitens waren der Westen und
die Sowjetunion mit einer seltenen Kombination weiser Staats- und
Regierungschefs gesegnet: Erst Ronald Reagan, dann George H.W. Bush in den USA,
zudem Helmut Kohl in der Bundesrepublik und Michail Gorbatschow in Moskau.
Drittens brach das absurde sozialistische System des Ostblocks wirtschaftlich
zusammen, weil es sich letztlich als eine Fehlkonstruktion erwiesen hatte. Niemand kam dabei um. Niemand wurde gefoltert. Niemand
musste in Konzentrationslagern schmachten. Niemand wurde in die Flucht
getrieben. Niemand ertrank. Niemand wird heute im wiedervereinigten Deutschland
wegen seines Glaubens, seines Besitzes oder seiner politischen Gesinnung
verfolgt.
Aber
heute noch begrüßen selbst renommierte Fachleute den kommunistischen Triumph
über Südvietnam als eine „Befreiung“, vielleicht ohne zu ahnen, dass sie damit
in der infamen Tradition des linksliberalen Harvard-Professors John Kenneth
Galbraith stehen, der Südvietnam hochmütig die „Rückkehr in den reichlich
verdienten Zustand der Nichtigkeit“ wünschte. Die naheliegenden Fragen werden
kaum gestellt: Wer wurde in Vietnam eigentlich von wem und zu welchem Zweck
„befreit“? War es wirklich eine „Befreiung“, dass diesem Land ein totalitärer
Einparteienstaat aufgezwungen wurde, der weltweit zu den verwerflichsten
Übertretern von Grundrechten gehört, zum Beispiel dem Recht auf Religions-,
Presse- und Redefreiheit?
Und
was waren das für „Befreier“? Betrachten wir den Mann, der diesen
Eroberungskrieg angezettelt hatte. Einer seiner Namen wurde an allen westlichen
Universitäten skandiert: Ho-Ho-Ho-Chi-Minh. Aber so hieß er nicht wirklich.
Heute wissen wir, dass er seit den frühen Zwanzigerjahren ein Agent der
sowjetischen „Komintern“ (Kommunistischen Internationale) war und mindestens
170 Namen und Pseudonyme führte. Wer an der Wahrheit über ihn interessiert war,
hätte schon in den Sechzigerjahren aus seriösen, überparteilichen Quellen
erfahren können, dass er sogar nach seiner eigenen Aussage nie Anderes im
Schilde führte, als den Sieg des Marxismus-Leninismus in der ganzen Welt. Mit
diesem Ziel vor Augen hatte er in Indochina im Verlauf von drei Jahrzehnten alle
Freiheitskämpfer beseitigen lassen, die nicht der Moskauer Parteilinie folgten:
vor allem bürgerliche Nationalisten und Monarchisten, aber auch Trotzkisten.
Es
war, als ich in Saigon wohnte, kein Geheimnis, dass Ho von 1953 bis 1956 im
kommunistischen Teil Vietnams bei einer „Landreform“ stalinistisch-maostischen
Stils mindestens 200.000 Grundbesitzer zu Tode foltern und unzählige andere in
den Selbstmord trieben ließ. Ich sage: mindestens. Andere Quellen beziffern die
Opfer auf eine halbe Million. Sein erklärtes Ziel war auch nicht in erster
Linie eine Agrarreform sondern die „Neutralisierung“ aller potentiellen
„Klassenfeinde“, ganz so wie bei ähnlichen Massenmorden Stalins und Maos in
ihren Ländern. Einer Bewegung mit dieser verbrecherischen Vorgeschichte
überantwortete aber der amerikanische Kongress Südvietnam, als er 1974 jegliche
weitere Militärhilfe für dieses blutende Land untersagte! Das US-Parlament
folgte damit der unverantwortlichen Konklusion des Harvard-Professors Galbraith
und Gleichgesinnter, dass dieser Gegner gar nicht existiere.
Was
war das also für eine „Befreiung“, die zwischen 1955 und 1975 über 3,8
Millionen Menschenleben kostete und eine Million in die Flucht trieb, wovon
zwischen 200.000 und 400.000 sogenannte „Boat People“ ertranken? Wie konnte der
Westen den Begriff „Befreiung“ akzeptieren, deren Ausführende nach ihrem Sieg
alle jene eliminierten, von denen sie meinten, dass sie ihnen später einmal
gefährlich werden könnten. Hier tut sich ein unüberbrückbarer Kontrast zwischen
den Ereignissen in Vietnam 1975 und jenen in Deutschland 1989/90 auf. Als die
DDR unterging, wurde kein einziger NVA- oder Stasi-Offizier hingerichtet. Aber
kaum war Saigon gefallen, da exekutierten die Kommunisten 100.000 Offiziere und
Beamte des überwältigten Gegners, trieben zwischen einer und 2.5 Millionen
Menschen in Umerziehungslager, wo 165.000 unter grauenvollen Qualen starben und
hunderttausende mehr so schwer gefoltert wurden, dass sie heute noch an
Gehirnschäden und psychischen Problemen leiden, wie ein internationales
Forscherteam unter Leitung des Harvard-Psychiaters Richard F. Molina
ermittelte. Seine Erkenntnisse erschienen den wenigsten amerikanischen Medien
vermeldenswert.
Seit
Mitte der Sechzigerjahre akzeptieren politische, journalistische und
historische Mythographen im Westen aus Naivität oder intellektueller
Unaufrichtigkeit die Propagandalüge Hanois, dass dies ein „Volkskrieg“ gewesen
sei. Das „s“ in der Mitte dieses Wortes konnotiert jedoch den Genitiv; die
Vokabel „Volkskrieg“ ist somit eine Kurzform für „Krieg des Volkes“. Aber genau
dies war er nicht. Er war vielmehr ein Krieg gegen das Volk, und die Insassen der akademischen Elfenbeintürme
des Westens und viele Medienvertreter machten sich zu Komplizen eines
mörderischen Unternehmens, das in eine Kategorie gehört, für die der Politologe
Rudolf Joseph Rummel von der Universität von Hawaii den Begriff „Demozid“
geprägt hat.
Demozid
war laut Rummel die führende widernatürliche Todesform des 20. Jahrhunderts.
Demozid ist ein weitreichenderer Begriff als Genozid (Völkermord). Demozid
beschränkt sich nicht darauf, unwillkommene Volksgruppen zu liquidieren.
Demozid ist laut Rummel der „von einer Regierung verübte Mord an irgendeiner
Person oder irgendeinem Volk.“ Wie Rummel weiter erläuterte, fallen „Genozid,
Politizid (politischer Mord) und Massenmord“ unter die Rubrik Demozid.
Das
Gespenstische an Demoziden ist, dass mit ihnen Ziele verfolgt werden, die denen
des sardischen Marxisten Antonio Gramsci (1981-1937) entsprechen, dessen geistiges
Erbe heute wieder hoch im Kurs steht, insbesondere bei der einflussreichen
Linken im akademischen Leben der USA. Gramsci, ein Mitbegründer der
Kommunistischen Partei Italiens, plädierte für die Auflösung aller politischen,
sozialen, kulturellen, religiösen, sprachlichen und wirtschaftlichen
Institutionen und damit implizit auch der bürgerlich-demokratisch geprägten
Ideale von Würde und Freiheit. Genau dies wird mit Demoziden beabsichtigt.
Allerdings muss hier betont werden, dass Gramsci diese Ergebnisse blutlos zu
erreichen trachtete, nachdem er den Wahnsinn der stalinistischen Säuberungen in
der Sowjetunion miterlebt hatte.
Nordvietnam
strebte dieses Resultat hingegen auf die altmodische Weise an, nämlich per
Demozid, während seine Fürsprecher in den westlichen Elfenbeintürmen es
vorzogen, nach dem Modell Gramsci das eigene Blut zu schonen und die Segnungen
der eigenen Institutionen voll auszuschöpfen, solange es sie noch gab. Der
westdeutsche Vietcong-Propagandist Erich Wulff lieferte hierfür ein Musterbeispiel.
Nach eigenem Eingeständnis trat er nur deshalb der 1968 gegründeten DKP nicht
bei, weil er seinen Beamtenstatus als Professor für Sozialpsychiatrie an der
Medizinischen Hochschule in Hannover nicht verlieren wollte.
Im
heuchlerischen Gerede über den Vietnamkrieg während der letzten vier Jahrzehnte
wurde eine Kette weiterer Fragen mutwillig übersehen: Wünschte sich das
vietnamesische Volk überhaupt ein kommunistisches Regime? Wenn ja, wieso zog
dann fast eine Million Nordvietnamesen in den Süden um, als das Land 1954
geteilt wurde, verglichen mit nur 130.000 kommunistischen Sympathisanten, die
aus dem Süden in den Norden abwanderten?
Wer
begann diesen Krieg? Kämpften südvietnamesische Truppen in Nordvietnam? Nein!
Überquerten südvietnamesische Guerilleros den 17. Breitengrad, um im Norden
pro-kommunistischen Dorfschulzen und ihren Angehörigen den Bauch
aufzuschlitzen, den Männern die Zunge herauszureißen, die Geschlechtsteile
abzuschneiden und in den Mund zu stecken und den Frauen die Brüste abzuhacken,
bevor sie Männer, Frauen und Kinder aufhängten? Nein! Liquidierte die
südvietnamesische Regierung ganze Gesellschaftsschichten so wie im Norden
hunderttausende Grundbesitzer und andere echte oder vermeintliche Opponenten
des Regimes umgebracht wurden? Nein! Entstand im Süden ein monolithischer
Einparteienstaat wie im Norden? Nein! In Südvietnam gab es selbst in einer Zeit
, als es um sein Überleben kämpfte, freie und faire Wahlen. Ich habe sie
miterlebt.
Als
deutscher Staatsbürger hatte ich, wie die Amerikaner sagen, „no dog in this fight“; dies war nicht
mein Krieg. Aber um einen Satz aus dem Gebetsbuch für Journalisten zu
paraphrasieren: Insofern hartgesottene Reporter überhaupt noch ein Herz haben,
gehörte meines dem gemarterten vietnamesischen Volk, und daran hat sich bis
heute nichts geändert. Mein Herz gehörte – warum sollte ich diese Neigung
leugnen? – seinen sublimen Frauen, die so unverblümt direkt und amüsant sein
können. Es gehörte aber auch den zerebralen und immens komplizierten vietnamesischen
Männern, die auf konfuzianische Weise den perfekten Traum zu träumen
versuchten. Es gehörte dem kindlichen Soldaten, der mit seinem einzigen Besitz
in den Kampf zog: einem Kanarienvogel in seinem Käfig. Es gehörte den jungen
Kriegerwitwen, die ihre zierlichen Körper grotesk verstümmeln ließen, um
heiratswillige amerikanische Soldaten zu erhaschen, junge Männer, die ihnen und
ihren Kindern am jenseitigen Ende des Ozeans Sicherheit gewährten, statt sie
kommunistischen Tyrannen zu überlassen. Mein Herz gehörte den städtischen und
ländlichen „Griewatschen“ wie Duc, dem Zeitungsjungen in Saigon, und Duc, dem
elternlosen Hirtenburschen, der seinen Wasserbüffel entlang der freudlosen
Straße in Zentralvietnam weidete.
Ich
hatte als Kind vor dem Kommunismus fliehen müssen; vielleicht deshalb schlug
mein Herz umso leidenschaftlicher für Menschen, die ich vor der Brutalität der
Kommunisten flüchten sah – und zwar immer in südlicher Richtung, bis am Ende
kein Quadratmeter mehr existierte, auf dem sie sich zusammenkauern konnten.
Mein Herz gehörte jenen, die ich in den Massengräbern sah: teils stehend, teils liegend, teils
verbrannt, teils erschlagen, teils erschossen, teils lebendig begraben. Ich
habe ihren Verwesungsgestank immer noch in der Nase.
Ich
war nicht in Saigon, als es fiel, nachdem die immer wieder in den
amerikanischen Medien verhöhnten und letztlich von Washington im Stich
gelassenen südvietnamesischen Soldaten nobel weitergekämpft hatten, wohl
wissend, dass sie den Kampf weder gewinnen noch überleben würden. Ich lebte zu
diesem Zeitpunkt in Paris und trauerte. Heute wünsche ich, ich hätte fünf
vietnamesischen Generälen meine Reverenz erweisen können, bevor sie sich die
Kugel setzten, weil sie wussten, dass der Krieg, den sie eigentlich gewonnen hatten,
nun verloren war. Ich kannte sie fast alle: Le Van Hung (*1933), Le Nguyen Vy
(*1933), Nguyen Khoa Nam (*1927), Tran Van Hai (*1927) und Pham Van Phu
(*1927).
Während
ich diesen Epilog schreibe, macht sich ein junger „Kollege“ in den USA einen
großen Namen damit, im Hinblick auf den 40. Jahrestag des Falls von Saigon die
amerikanischen Kriegsverbrechen in Südvietnam anzuprangern. Er war damals noch
nicht geboren, aber er steht unerschütterlich in der karrierefördernden
Tradition der Elfenbeintürmer jener Zeit, die ihren Ruhm und ihre Reichtümer
damit erwarben, dass sie den Urhebern der Vietnam-Tragödie einen Freipass
gaben.
Nicht,
dass ich die Missetaten amerikanischer Kriegsverbrecher auch nur für eine
Sekunde entschuldigte. Diese Täter gab es; sie verdienen an den Pranger
gestellt zu werden. My Lai war eine Realität. Warum wollte ich das leugnen? Ich
saß beim Kriegsverbrecherprozess gegen Leutnant William Calley im Gerichtssaal
in Fort Benning und hörte die Beweisaufnahme und dann den Schuldspruch. Ich
weiß um die unzähligen Menschenleben, deren Verlust auf das Konto des
verbogenen Verstandes politischer und militärischer Führer im Washington der
McNamara-Ära und im US-Hauptquartier in Saigon gehen: Menschen, die sich den
perversen „Body Count“ – der Leichenquoten – ausdachten und die mit „Agent
Orange“ den Urwald entblättern und Zivilisten wie und eigene Soldaten vergiften
ließen.
Gleichwohl
lassen sich die Gewalttaten dysfunktionaler amerikanischer Verbände und die
Torheit schlechter Strategen nicht mit dem im Namen Ho Chi Minhs verübten
Demozid unter den Südvietnamesen vergleichen. Die ersteren waren Verbrechen,
die entsprechend geahndet wurden, wenn auch oft skandalös unzureichend. Das
zweite war hingegen ein eiskalt geplantes Staatsverbrechen, das Ho Chi Minhs
Nachfolger bis heute als eine Heldentat feiern. Von der „kollektiven Scham“,
die Bundespräsident Theodor Heuß 1949 zu Recht bei den Deutschen angemahnt
hatte, ist im kommunistisch regierten Vietnam nicht einmal ansatzweise etwas zu
spüren.
Warum
wird den kommunistischen Tyrannen in Hanoi das durchgelassen? Weil in der
freien Welt weder die Staatsmänner noch Journalisten und Residenten von
Elfenbeintürmen diese Machthaber fragen: Wieso haben Eure Vorgänger diese
Unschuldigen abgeschlachtet, die zu befreien sie vorgaben, und wieso
kolportiert ihr nach wie vor diese Fama? Als Deutscher erlaube ich mir eine
Fußnote mit Fragezeichen anzufügen:
Was trieb sie zum Mord an Hasso Rüdt von Collenberg? Oder an den
deutschen Ärzten in Hué? Oder an den jungen Mitarbeitern des
Malteser-Hilfsdienstes (MHD)? Welch elender Kleingeist bewog Eure damaligen
Genossen, Monika Schwinn und Bernhard Diehl vom MHD vier Jahre lang in
Einzelhaft ihm „Hanoi Hilton“ festzuhalten? Welche hasserfüllte
Spießermentalität muss sich der Führung dieses großen Kulturvolkes bemächtigt
haben, dass sie am Ende selbst Monika Schwinns Katze umbrachte, ihre einzige
Kerkergefährtin? Geniert Ihr Euch nicht der Schäbigkeit des
Gefängniskommandanten, der Bernhard Diehl seine 6.000 Verse abnahm, bevor Diehl
heimkehren durfte? Wieso fehlt Euch die menschliche Größe, ihm dieses Memento
an seine vier verlorenen Jahre in Nordvietnams Verließen mit einem Ausdruck der
Scham zurückzugeben?
Wieso plagen solche Fragen nicht Euer
kollektives Gewissen, so wie nachdenkliche Amerikaner und Briten, deren Länder
zweifellos im Zweiten Weltkrieg auf der richtigen Seite gestanden hatten, heute
noch mit dem moralischen Problem der Flächenbombardements auf deutsche
Wohngebiete und des Atomangriffs auf Hiroschima und Nagasaki ringen?
In
ihren Reminiszenzen über ihren Zwangsmarsch auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad schilderte
Monika Schwinn ihre Begegnung mit nordvietnamesischen Kampfverbänden auf dem
Weg nach Südvietnam als eines ihrer fürchterlichsten Erlebnisse. Sie beschrieb
den tiefen Hass in den Gesichtern dieser jungen Soldaten, die von den
Vietcong-Kämpfern nur mit Mühe daran gehindert werden konnten, die Deutschen
auf der Stelle umzubringen. Hass ist keinem Menschen angeboren. Hass muss ihm
anerzogen werden. Um Hass in den Herzen junger Leute zu säen, bedarf es einer
erlesenen pädagogischen Disziplin, die zu den Spitzenprodukten totalitärer
Systeme gehört.
In
seiner brillanten Biographie Heinrich Himmlers (München: 2008) berichtet der
Historiker Peter Longerich, dass der „Reichführer SS“ Mühe hatte, seinen
schwarz uniformierten Strolchen ihre angeborenen Hemmungen vor dem Mord an
Unschuldigen zu nehmen, ehe er den Holocaust vorantreiben konnte. Ihnen musste
erst einmal ein todbringender Hass eingeimpft werden. Nur so erklärt sich auch
der Hass in den Augen der nordvietnamesischen Killer von Hué, ein Phänomen, das
in meinen Interviews mit den Überlebenden immer wieder zur Sprache kam. Aber um
dies zu hören, musste ich Zeit mit diesen Menschen verbringen, musste ich ihr
Vertrauen gewonnen haben. Erst dann begriff ich dieses zentrale Element dieser
immensen historischen Katastrophe, die auch nach 40 Jahren ihre Aktualität
nicht verloren hat. In den Elfenbeintürmen amerikanischer Eliteuniversitäten
und New Yorker Fernsehstudios wird so etwas nicht wahrgenommen: Deswegen ist
auch so Vieles, das aus diesen Quellen zum Thema Vietnam verbreitet wird,
unmaßgeblich.
In
seinem Buch Frankreichs fremde Söhne,
Fremdenlegionäre im Indochina-Krieg (Stuttgart: 1976) beschreibt Paul
Bonnecarrère eine historische Begegnung zwischen dem legendären französischen
Oberst Pierre Charton und dem nordvietnamesischen General Vo Nguyen Giap.
Charton war in kommunistischer Gefangenschaft, und Giap besuchte ihn, um ihm
seinen Respekt zu bezeugen. Die beiden trafen sich im Klassenraum einer
Agitpropschule in Gegenwart von 20 Vietminh-Kämpfern. Das Gespräch verlief so:
Giap:
„Ich habe Sie besiegt, mon colonel!“
Charton:
„Nicht Sie haben uns besiegt, mon général.
Der Dschungel hat uns besiegt ... und Ihr Terror, mit dem Sie die
Zivilbevölkerung zwangen, sie(Sie?) zu unterstützen.“
Giap
gefiel diese Antwort nicht. Er verbot seinen Schülern, sie niederzuschreiben.
Aber sie entsprach der Wahrheit, und zwar auch im zweiten Indochina-Krieg, den
ich als Reporter begleitete. Genau genommen war dies aber nur eine
Teilwahrheit. Den anderen Teil habe ich in diesem Band wiederholt erwähnt:
Demokratien besitzen augenscheinlich tatsächlich nicht die Geduld und damit das
politische und psychologische Zeug, lang ausgedehnte Kriegen zu gewinnen, die
ihnen totalitäre Mächte aufzwingen. Vo Nguyen Giap hatte dies als erster
begriffen. Diese Erkenntnis und gewissenlose Terrortaktiken waren die Säulen
seiner Strategie. Er behielt Recht und siegte. Noch viel gefährlichere Gegner
des Westens geben zu erkennen, dass sie dies zur Kenntnis genommen haben.
Mit
einer Gänsehaut ziehe ich heute aus meinen Vietnam-Jahren den Schluss: Wenn
eine maßlos narzisstische Wegwerfgesellschaft es leid wird, Opfer zu bringen,
bringt sie es fertig, alles in den Abfalleimer zu schmeißen wie eine halb
gegessene Currywurst. Sie verramscht Menschen, die zu beschützen sie ausgezogen
war. Sie verschleudert sogar das Leben, die körperliche und seelische
Gesundheit, die Würde, das Werk
und den guten Ruf ihrer eigenen jungen Leute, die sie in den Krieg gechickt
hatte. Was dieser augenscheinliche
Webfehler liberaler Demokratien über deren Überlebenschance aussagt, flößt
Furcht ein, weil er ihre Legitimität untergräbt und sie damit letztlich zu
zerstören droht.
Ich
möchte meine Vietnam-Reminiszenzen aber nicht mit dieser finsteren Note
beenden. Als Zeitzeuge habe ich in meinen 77 Lebensjahren erfahren, dass
Geschichte immer nach vorne offen ist, und als Christ weiß ich, welcher Herr
letztlich den Verlauf der Geschichte bestimmt. Der kommunistische Sieg in
Vietnam beruhte auf bösen Grundlagen: auf Terror, Mord und Verrat. Natürlich
befürworte ich nicht die Wiederaufnahme des Blutvergießens, um den unverdienten
Sieg Hanois zu korrigieren, selbst wenn dies möglich wäre. Aber als ein
Bewunderer des unverwüstlichen vietnamesischen Volkes weiß ich auch, dass es
eines Tages die richtigen Wege und Führer finden wird, sich seiner Despoten auf
friedliche Weise zu entledigen. Das mag noch Jahrzehnte dauern, aber es wird
geschehen.
In
diesem Sinne reihe ich mich in die Schlange der Rikschakulis vor dem Bahnhof
von Hué ein, wo 1972 auf dem Höhepunkt des Absurden Theaters keine Fahrgäste
eintrafen oder abfuhren. Wo sonst wäre mein Platz? Was bleibt mir anderes als
die Hoffnung?
Lieber Herr Dr. Siemon-Netto,
ReplyDeleteich habe heute einTeil Ihres Buches in Deutsch, in Englisch und in Vietnamesisch gelesen und bewundere Sie so sehr, daß ich unbedingt hier schreiben muss, um Sie zu loben und zu danken, daß Sie dieses wunderbares und wertvolles Buch mit allen Ihre Memoiren und schönen Gefühle über Vietnam geschrieben haben.
Seit über vier Dekade lebe ich in Deutschland und habe noch kein vergleichbares gutes Buch über Vietnam gelesen. Es ist rührend wie Sie es mit Ihren Worten formulieren und schreiben. Und das ganze mit der Wahrheit, die wenig Leuten kennen. Ich werde das Buch auf jeden Fall weiter an vielen Freunde und Kollegen empfehlen, damit sie die den Krieg in Vietnam besser verstehen können. Für mich Ihr Buch ist ein literatisches Werk und einzigartiger Bestseller.
Ich wünshe Ihnen weiterhin viel Erfolg. Gott schützt Sie und Ihre Familie.
nt